Familiäre Strukturen haben in der Republik Moldau nach dem Untergang der Sowjetunion eine besondere Bedeutung erlangt. In “Abolirea familiei / Die Abschaffung der Familie” fragt Nicoleta Esinencu nach dem Begriff der Familie im 21. Jahrhundert und erzählt mit ihren Performer*innen Geschichten, die Privates und Politisches spiegeln. Dies sind Auszüge aus Briefen von ihrer Mutter an sie.
Nica!
Vor langer Zeit irgendwann ist in meinem Elternhaus ein Spiegel zerbrochen. Mama sagte: Auf uns kommt ein Unglück zu. Und so war es auch: mein Papa, dein Opa, kam ins Gefängnis. Leider hat seine Trinkerei ihn dahin gebracht. Seitdem habe ich immer Angst vorm Trinken und vor Spiegeln gehabt. Wenn ich manchmal einen berühre, ist mein erster Gedanke: Zerbrich ihn bloß nicht.
Eines Tages, dein Papa (er hat die Haustür nie selbst aufgeschlossen) kam wie immer spät nach Hause und klingelte. Das ununterbrochene schrille Klingeln weckte mich auf. So aus dem Schlaf geschreckt, fand ich die Schlafzimmertür nicht.
Als ich mich umdrehte, lag der Spiegel in Scherben.
So begann mein Kreuzweg. Viele Jahre lang dauerte es, bis ich zu Gott fand, ich bat ihn, mir meine Sünden zu vergeben.
Nica, die Verzweiflung kommt später. Zuerst widersetzt du dich, dann weinst du. Dann rauchst du eine. Danach denkst du an Gott und besorgst dir eine Bibel.
Dann findest du wieder eine versteckte Spritze. Du zitterst. Rennst wieder zu Gott. Flehst ihn an. Weinst. Denkst an alle deine Sünden. Gehst zur Kirche. Beichtest. Sagst dein Reuegebet. Teilst das Abendmahl und hoffst, dass Gott dir vergibt.
Du machst dir Vorwürfe: Du hast ihn nicht gut erzogen. Hast nicht gemerkt… warst zu gut, warst zu böse… hast ihm keine Gitarre gekauft…
Du erinnerst dich aber: du hast ihn zum Malkurs geschickt, zum Schwimmkurs, zum Tanzkurs, hast ihm Bücher vorgelesen, hast ihn zur Schule gebracht, ihn ins Theater mitgenommen, ihm Essen ans Bett gebracht.
Du stellst entsetzt fest, du hast ihm nicht aus der Bibel vorgelesen. Du fängst am selben Abend an, ihm daraus vorzulesen.
Du suchst, suchst, suchst nach Antworten in Büchern… versuchst dich an verschiedenen Theorien.
Hast Angst, dich in das Leben deiner Tochter einzumischen. Hast ein schlechtes Gewissen, du hast ihr nichts geboten.
Nachts kannst du nicht schlafen.
Du sprichst 33 Mal das “Vaterunser”. Du begreifst, dass du alleine bist. Dass keiner dich braucht. Du willst irgendwohin, in die Welt rennen. Kannst aber nirgends hin. Du hast kein Geld, kein Elternhaus, keine Freunde. Du gehst aus dem Haus. Hockst ein paar Tage am Bahnhof. Rasierst dir eine Glatze zum Zeichen des Protests. Triffst eine Entscheidung: Bis zum Lebensende wirst du nicht mehr reden. Du gehst zurück nach Hause.
Weinst an der Schulter deiner Tochter. Dein Enkel ruft an und fragt: „Oma, kannst du heute Polenta machen?“ Du musst ihm antworten. Du wischst dir die Tränen ab.
Nachts redest du mit Gott. Du betest für deinen Mann, die Jungen, die Tochter, die Schwiegertöchter, Enkel. Du denkst, wenn zu ihrem Wohl nur so wenig nötig ist, dann hast du nicht das Recht, es nicht zu tun.
Mama, 24.01.2004
Übersetzung aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme