In Jota Mombaças Tagebucheinträgen – weniger Dystopie als vielmehr poetische Beschreibung des Status quo – materialisiert sich die Hierarchie der Welt im Oben und Unten. Im Verborgenen, in Labyrinthen von Tunnels, begleitet von Traurigkeit und ständigen Verlusten müssen sich die Anwesenden auf ihre Instinkte verlassen und halten deshalb umso mehr an einer Gemeinschaft fest.
21. November 2021
WIEDER HABEN WIR ALLES VERLOREN. Es ist das dritte Mal, dass das passiert ist, seitdem diese Zeitrechnung begonnen hat. Die Tage sind lang, fast endlos. Wir laufen durch Tunnel, für unbestimmte Zeit. Wir sind überall rausgeworfen worden, laufen immer im Schatten, immer zusammen. Hier unten kann das Vibrieren der Welt verstörend wirken. Unter uns sind einige, die noch immer davon träumen, an die Oberfläche zurückzukehren. Sie träumen davon, die Welt zurückzugewinnen und ihre scheinbar verlorengegangene Integrität wiederherzustellen. Unter uns sind allerdings auch so manche, die sich über diese Nostalgiker*innen lustig machen und darauf beharren, dass es eine heile Welt nie wirklich gab und dass wir immer hier unten gewesen sind.
Und das stimmt, wir sind schon immer hier gewesen. Die Tunnel, in denen wir jetzt leben, wurden von denen gegraben, die als Erste dieses Gebiet durchquerten – versklavte Menschen, auf der Flucht vor den Hieben derer, die sich als ihre Herrscher*innen ausgaben. Im Laufe der Jahre verbreiterten sich ihre Pfade, es wurden so viele, dass sie nun einem unterirdischen Labyrinth gleichen, einer überlieferten und in die Erde eingegrabenen Infrastruktur. Sie befindet sich unter den weißen Füßen von Menschen, die sich mit Waffengewalt als Herrscher*innen der Welt durchgesetzt haben.
Es ist dunkel hier. Wir verlieren uns so oft aus den Augen, dass unsere Sinneswahrnehmung besonders geschärft ist. Wir haben gelernt, durch Berührung, Geruch, das Geräusch unseres Atems und das Vibrieren, das sich durch unsere Körper bewegt und von dort auf die anderen übergeht, miteinander zu kommunizieren. Auf diese Weise lesen wir auch die Tunnel. Jedes Detail dieser ungewöhnlichen Geografie spricht zu uns. Feuchtigkeit, Gerüche, die Geräusche von ebenfalls hier lebenden Wesen, genauso wie das schwarze, fast violette Licht, das ab und zu aus der Tiefe der Erde aufsteigt und alles flutet, alles erleuchtet, ohne es wirklich sichtbar zu machen. Immer wenn wir alles verlieren, erscheint dieses Licht und materialisiert sich in unseren Körpern und in den Strukturen all dieser Tunnel.
Wenn eine*r von uns stirbt, benutzen wir den Ausdruck “alles zu verlieren”. Wir haben aufgehört, das Wort “sterben” zu benutzen, weil wir ja im Grunde schon seit der ersten Bombe tot sind ... und sogar schon sehr viel länger, seit dem ersten Schiff mit Versklavten, auf dem unsere Leben gebrandmarkt wurden durch diesen riesigen und undifferenzierten “Tod-im-Leben”. Manche von uns nennen sich als lebendige Tote Zombies. Und genau genommen sind wir ja Zombies, weil wir weder lebendig noch tot sind, und weil wir noch dazu von dem Krieger Zumbi dos Palmares abstammen. In unseren glücklichsten Stunden, wenn unsere Herzen etwas leiser schlagen und wir fühlen, dass in uns immer noch eine kleine Lebensflamme alles andere verbrennt, stellen wir uns gern vor, dass Palmares hier ist, dass auf der anderen Seite der Apokalypse Schwarzes Leben entsteht und sich wie ein Licht ausbreitet, das jedes Mal aus der Tiefe emporsteigt, wenn wir alles verlieren.