“Wir flirten mit der Zeitlichkeit von Desastern.”

Ariel Efraim Ashbel im Interview

Im Interview spricht Ariel Efraim Ashbel über seine neue Arbeit, über seine Poetik und seine Rolle als Regisseur. “no apocalypse not now” feierte Ende September 2019 beim steirischen herbst Premiere und kommt jetzt ans HAU Hebbel am Ufer.

“no apocalypse not now” ist ein recht verhängnisvoller Titel. Ich finde, er klingt fast wie ein Gebet oder ein Mantra, das eine herannahende Katastrophe ankündigt und doch verzweifelt darauf hofft, dass diese nicht eintreten wird. Kannst du uns erzählen, wie es zu diesem Titel kam?
Mir gefällt die Idee des Gebets oder Mantras. Ich schätze, es handelt sich tatsächlich um eine Art Bitte, eine ethische Orientierung und einen spirituellen Wunsch. Aber so naiv bin ich nicht und die Antwort auf die Frage, wie es zu diesem Titel kam, ist eigentlich viel banaler: Ich habe ihn geklaut (er lacht). Die Titel all meiner Stücke sind bereits existierenden Filmen entnommen – zum Beispiel “The Empire Strikes Back”, “Do The Right Thing” oder auch mein Abschlussstück nach dem Studium an der Theaterhochschule, das hieß “Jaws”. Dieses Stück haben wir am Anfang einfach “apocalypse now” genannt. Als mein Kooperationspartner Romm Lewkowicz, mit dem ich das Stück gemeinsam entwickelt habe, und ich tiefer in die Recherche einstiegen und uns mit verschiedenen Aspekten der Apokalypse beschäftigten, stolperten wir über einen Text von Derrida, der “No Apocalypse, Not Now” (deutscher Titel: “Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie”) hieß.
 

“Es ist erfrischend, dem Begriff der Apokalypse eine Absage zu erteilen.”

Also hast du den Titel dieses Mal eigentlich aus einem Text ‘geklaut’? 
Ja. Derrida hat den Text 1984 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges veröffentlicht, als einem die Auslöschung der Menschheit wie ein realistisches Szenario erschien und diese auch in der Politik, der Kultur und in den Geisteswissenschaften diskutiert wurde. Derrida baut darin sieben kleine poetische Argumente (die er auf Englisch als “missives” or “missiles” bezeichnet) auf und entwirft so ein Porträt des Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts. Dieser Mensch ist hektisch, voller Sorge und rennt traumartig in eine Beschleunigung, die uns nicht nur alle in die Luft sprengt, sondern auch unsere Bedeutungssysteme zerstört und alle Prozesse entkräftet, durch die wir Bedeutung schaffen. Als wir den Text lasen, haben wir entschieden, den Titel in diese Richtung zu ändern.

Wie setzt du mit Hinblick auf diese Beobachtungen das Stück in Bezug zur Apokalypse? 
Es ist irgendwie erfrischend, dem Begriff der Apokalypse eine Absage zu erteilen, und zwar nicht durch einen naiven Aufruf zum Optimismus, sondern vor allem durch puren Widerstand. In den acht Jahren, die ich schon in Deutschland lebe, bin ich gegenüber dem Nihilismus, der die Kunstkreise heute bestimmt, zunehmend skeptisch geworden. Soweit ich das verstehe, stammt er aus einer etwas veralteten Kultur des ‘Enfant Terrible’, die noch dadurch verstärkt wird, dass man nach und nach erkannt hat, dass das Projekt Liberalismus gescheitert ist. Es geht also um eine Art Selbstironie, die mit einem wilden Narzissmus kombiniert wird und mithilfe derer die herannahende Zerstörung der Welt noch gefeiert wird. Diese Einstellung besagt so ungefähr: “Wir haben es eh schon so sehr versaut, dass wir gleich weitermachen können, und außerdem sind wir der Welt ja ohnehin egal.” Ich finde diese Einstellung allerdings wenig inspirierend. Ich habe keine Lust mehr, in Zerstörung und glorifiziertem Verfall zu schwelgen. Ich glaube, dass wir die Möglichkeit haben und damit auch die Verantwortung tragen, uns subtiler auszudrücken und mit Freude zu arbeiten. Neben vielen anderen Dingen ist es das, was “no apocalypse not now” für mich bedeutet. Außerdem liebe ich den Zusatz “not now”, weil es sich dadurch so anfühlt, als könnte man das Gegenwärtige dadurch auf Distanz halten. Auch wenn ich damit Gefahr laufe, mir selbst zu widersprechen, wage ich zu behaupten, dass die ständige Frage, was jetzt richtig ist oder in die Gegenwart passt, eher in eine ermüdende Debatte des 20. Jahrhunderts gehört, die uns heute nichts mehr bringt.

“Ich interessiere mich sehr für die Dynamik der Aneignung als Alternative zum Konzept der Authentizität.”

Dein Titel ähnelt Francis Ford Coppolas Film “Apocalypse Now” (1979). Wie du schon erwähnst, ist das kein Zufall. Könnte man deshalb auch sagen, dass der Film dich inspiriert hat? Ich glaube, du hast gesagt, dass er ebenso wie Joseph Conrads “Heart of Darkness” (1899) einige der Themen, die du in deinem Stück ansprichst, angestoßen hat. Dazu gehört zum Beispiel die Krise weißer männlicher Identität, mit der diese beiden Werke auf ganz besondere Art ringen, und die aus vielerlei Gründen heutzutage allgegenwärtig erscheint. Kannst du uns einen Eindruck davon vermitteln, wie du dich mit deinem Team dieser Krise für das Stück konkret genähert hast? Und vielleicht, etwas genereller, welche Teile des Filmmaterials dich besonders angesprochen haben? 
Sowohl “Heart of Darkness” als auch “Apocalypse Now” sind tatsächlich Inspirationsquellen für meine Arbeit gewesen. Prinzipiell liebe ich es, mich damit zu beschäftigen, wie gewisse Narrative in Kulturen zu bestimmten Zeitpunkten wiederkehren. Ich interessiere mich sehr für die Dynamik der Aneignung als Alternative zum Konzept der Authentizität. Aber, um es etwas genauer zu sagen, finde ich diese zwei Filme gerade deshalb interessant, weil sie nicht nur eine Krise weißer männlicher Identität beschreiben, sondern auch den kompletten Zusammenbruch dieser Subjektposition durchspielen, und zwar im Zuge einer Konfrontation mit kolonialen Strukturen. Sobald das westliche Subjekt mit der körperlichen Realität des Kolonialismus konfrontiert wird, sobald es erkennt, wie die Kehrseite seiner eigenen Dominanz aussieht, kann es die Situation nicht länger ertragen und seine Welt zerbricht – folglich verbindet die Apokalypse die Zerstörung von Persönlichkeit mit einer moralischen Erweckung oder einer Verschiebung, im Grunde mit einer Offenbarung, einer Weltsicht. Zum ersten Mal erkennt das Subjekt seine unvermeidbare Verstrickung mit der Welt und erfährt gleichzeitig, wie dieses neu verwickelte Selbst seinen Zugriff auf die ihm bekannte Welt verliert.

Natürlich konzentrieren sich beide Narrative weiterhin auf die weiße Perspektive, so dass ich gerne sagen würde, dass wir hier eine Art Weiterführung oder auch Kritik an dem, was sie versucht haben, unternehmen. Conrad war ein leidenschaftlicher Kritiker des europäischen Kolonialismus in Afrika und Coppola initiierte einen epischen Film, der sich gegen den Vietnamkrieg aussprach. Gleichzeitig waren beide aber auch (weiße) Männer ihrer Zeit, die in ihrer Praxis genau die Strukturen weiterführten, die sie kritisieren wollten. In Bezug auf den Diskurs, den du in deiner Frage angesprochen hast, verstehe ich meinen Job nicht als einen Kreuzzug, der darauf hinauswill, diese Künstler auf ihre Schwächen hinzuweisen, auch wenn so etwas heute ja in Mode ist. Vielmehr möchte ich die zeitlichen und örtlichen Koordinaten, die in westlichen künstlerischen Narrativen als universell gelten, aufzeigen und durchbrechen. Demzufolge ist die Kritik oder Analyse dieser Subjektposition im Grunde eigentlich ein Kampf gegen eine gewisse Bezugnahme, gegen eine essentialistische Logik und eine Identitätspolitik, die rein auf Repräsentation aus ist. Letztendlich gleicht sie einer unromantischen Einladung, Menschsein und Menschlichkeit neu zu bewerten. Das wäre also eine Art, zu verstehen, wie wir dieses Thema in unserem Stück ansprechen: wir möchten eine Science-Fiction Spekulation entwerfen, die nicht drauf aus ist, bestimmte Körper zu vernichten, sondern eher die unterdrückende Logik von Identität im Allgemeinen aufdeckt, weil wir glauben, dass viel erreicht werden kann, wenn wir diese Konstrukte hinter uns lassen.

Das bedeutet auch, dass wir uns weiterhin mit der Frage von Whiteness und Menschlichkeit, die wir schon angesprochen haben, beschäftigen. Wir sind schon eine Weile auf diesem Weg, spätestens seit wir 2013 “all white people look the same to me” inszeniert haben. Mein neues Stück setzt sich aber nicht ausschließlich mit diesen Themen auseinander. Sie sind vielmehr Ausgangspunkte für die Arbeit, zusammen mit anderen Themen wie beispielweise messianischer Zeitlichkeit, einer Art Weltuntergangskult oder verschiedenen Konzepten ‘neuer Welten’. Ich kann und möchte im Moment auch gar nicht wissen, wohin uns dieser Prozess führen wird. Das Nicht-Wissen ist meiner Meinung nach Teil der Praxis, mithilfe derer ich die schon besprochenen Ideen umsetze.

 

“Momentan sehe ich mich als Moderator oder Gastgeber, der das Glück hat, von unglaublichen Künstler*innen umgeben zu sein.”

Du hast die ursprüngliche Szenerie dieses neuen Stücks mal als einen “Stamm von Frauen” beschrieben, der gerade “ein Trainingsprogramm für das Leben nach einem katastropalen Ereignis absolviert oder sich auf ein solches vorbereitet”. Werden wir mit diesem Stück an einen Ort geführt, der als zerstörte Ödnis inszeniert ist? 
In dem Stück tritt eine tolle Gruppe von Frauen auf, die ganz verschiedene Hintergründe haben und auf unterschiedliche Erfahrungen zurückgreifen. Tatiana ist als Schauspielerin ausgebildet, Jess ist Sängerin und Cassie Tänzerin. Außerdem macht noch Sarah Thom mit, eine der Gründerinnen von Gob Squad. Wenn man all ihre Sensibilitäten zusammennimmt, kommt sicherlich ein vielfältiger und vielschichtiger performativer Text dabei heraus. Ich bin mir noch nicht sicher, wie der Raum genau aussehen wird, aber wie du schon gesagt hast, werden wir mit der Zeitlichkeit von Desastern flirten, ohne konkret zu sagen, ob diese schon passiert sind oder bald geschehen werden. Also wird es sich manchmal vielleicht wie in einem Bunker oder bachliegenden Land anfühlen, aber das Stück wird sich auch mit den körperlichen Implikationen der ursprünglichen altgriechischen Bedeutung des Worts apokalypsis beschäftigen – also mit einer Entdeckung und Enthüllung. Der Architektur des traditionellen modernen Theaters mit ihren Räumen hinter den Kulissen, ihren Vorhängen und der Vorbühne wohnt etwas inne, dass zu einer Dynamik des Ver- und Enthüllens einlädt. Auf der einen Seite zeigt man etwas und auf der anderen hüllt man es in Geheimnisse. Ich bin mir sicher, dass wir mit dieser Dynamik spielen werden, wenn wir Raum und Handlung gestalten. Du kannst dich also auf jeden Fall auf eine Menge Spielereien einstellen (lacht).

Du inszenierst deine Stücke unter dem Namen Ariel Efraim Ashbel and friends. Einige dieser Freund*innen bringst du, wie du schon sagtest, mit nach Graz, zum Beispiel den israelischen Künstler Eli Petel und einige andere, zum Teil langjährige Kooperationspartner*innen. Wie würdest du deine Rolle als Regisseur in einem so professionellen und kreativen Team beschreiben? 
Diese Frage stelle ich mir jedes Mal, wenn wir an einem neuen Stück zu arbeiten beginnen. Die Art und Weise, wie sich meine Stücke entwickeln, führt mich immer weiter und weiter weg von der traditionellen Rolle des Regisseurs, des väterlichen Gurus, des allwissendenden Typs mit den Antworten auf alle Fragen. Momentan sehe ich mich eher als Moderator oder Gastgeber, der das Glück hat, von unglaublichen Künstler*innen umgeben zu sein, die ich bewundere. Ich suche nicht so sehr nach Antworten, sondern stelle eher die Fragen an ein Universum, das wir uns für jedes neue Stück schaffen. Romm und ich geben einen Rahmen vor und laden das Team dazu ein, in diesem Rahmen als Autor*innen zu agieren, ihn als Sprungbrett zu nutzen und soweit zu dehnen und ziehen, wie wir es für nötig halten. Neben den Performer*innen arbeite ich auch wieder mit dem Berliner Musiker*innenduo Hacklander \ Hatam zusammen, die Musik für das Stück schreiben werden. Wir arbeiten schon seit ein paar Jahren zusammen und unsere bereichernde Zusammenarbeit bringt immer wieder neue Dinge hervor. Colin Hacklander und Farahnaz Hatam gehen mit Sound und Musik auf eine ähnliche Weise um wie ich mit dem Theaterapparat. Sie nähern sich Sound phänomenologisch, nehmen ihn auseinander, dekonstruieren ihn und setzen ihn so wieder zusammen, dass sie immer wieder neue kompositorische Möglichkeiten entdecken, die dann oft auch zu dramaturgischen Entscheidungen führen. Mit Eli ist es anders, weil wir jetzt zum ersten Mal zusammenarbeiten. Er ist ein großartiger Künstler und jemand, den ich schon bewundert habe, als ich jung war und gerade anfing, mich durch die Kunstwelt zu bewegen. Deshalb freue ich mich sehr, dass er jetzt auch mit dabei ist. Außerdem hat er noch nie an einem Bühnenstück gearbeitet, es ist also etwas ganz Besonderes. Wir sind befreundet, also führen wir schon seit Jahren viele Gespräche. Ich wusste, dass sich der richtige Zeitpunkt für eine Zusammenarbeit finden würde und bin sehr glücklich, dass es jetzt soweit ist. Während sich dieser Prozess entfaltet, fallen wir intuitiv in unsere Rollen und finden heraus, wie wir zusammen etwas komponieren können. Uns war von Anfang an klar, dass Eli viel mehr ist als ein Bühnenbildner. Er ist ein Partner, der die visuelle Artikulation des Stücks und alles, was ich damit umsetzen möchte, versteht. Auch Joseph Wegmann, der für das Licht verantwortlich ist, ist ein enger Freund von mir. Weil ich auch aus dem Bereich der Beleuchtung komme, entstehen viele Ideen für Szenen aus halb-technischen Gesprächen über Dinge, die wir ausprobieren wollen.

Inmitten all dieser Ideen, Tendenzen und Pläne gleiche in dem Typ, der hilft, den Straßenverkehr zu regeln und in eine Richtung zu führen – ihn im wörtlichen Sinne zu lenken. Während ich also als Zirkusdirektor in der Manege stehe, versuche ich eigentlich hauptsächlich, ein Gespräch mit meinen Freund*inne zu führen und herauszufinden, wohin uns unsere Praxis bringt. Eigentlich kann ich diesen Diven nämlich ohnehin nicht sagen, was sie zu tun haben. 


Zuerst veröffentlicht im Vorherbst Magazine, 12.8.19
Das Interview wurde geführt von Dominik Müller / steirischer herbst
Deutsche Übersetzung von Mieke Woelky

Ariel Efraim Ashbel and friends

no apocalypse not now
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Wie eine Kettenreaktion

Isabelle Schad im Interview

Ende Mai feiert Isabelle Schads neue Arbeit “Reflection” am HAU Premiere. Die Choreografin, die beim Deutschen Tanzpreis 2019 eine Ehrung für herausragende künstlerische Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz erhält, beschließt mit diesem Stück ihre Trilogie über kollektive Körper. Im Interview spricht sie über ihre Recherchen zu Bewegungen und die Bühnen von HAU1 und HAU2.

“Reflection” ist der letzte Teil einer Trilogie über kollektive Körper, die 2014 mit “Collective Jumps”angefangen hat und 2016 mit “Pieces and Elements”weitergeführt wurde. Das Wort ‘Reflection’ enthält sowohl eine physische als auch philosophische Konnotation. Was ist “Reflection” für dich und wie unterscheidet sich dein neues Stück von den vorhergehenden?
“Reflection” ist sowohl Spiegel als auch kritische Betrachtung von Realitäten und deren jeweiliger Wahrnehmung. Dabei spielt zum einen die Spiegelung von Bewegung eine große Rolle, zum anderen der (Blick-)Winkel und die Perspektive, von der aus man etwas betrachtet. Der Begriff ‘Reflexion’ bedeutet vielerlei: Spiegelbild, Besinnung, Kontemplation, Widerschein, Abbild, Abglanz, Gedanke, Bedenken und auch Rückschau – mit meinem neuen Gruppenstück blicke ich in gewisser Weise auch auf die vorangegangenen beiden Arbeiten zurück.
Bei “Reflection”nun erscheinen alle Performer*innen auch als Personen, die in ihrer Einzigartigkeit mit den anderen in Verbindung stehen.Jede*r nimmt dabei im Verlauf des Stückes jede Rolle ein: die der*des Protagonist*in, des Helfenden, des Opfers oder der*des Anführer*in. Es entsteht ein komplexes System des ‘sich und einander Ablösens’, das Figurationen in stetigem Wandel hervorruft. Die Rollen der Performer*innen und ihre Bewegungsformen werden wiederholt und vervielfältigt, sodass das gesamte ‘Organ’ wie ein endlos fortlaufender Spiegelungsprozess erscheint, jede Bewegung in die des Nächsten übergeht, in etwa so wie bei einer Kettenreaktion.
Die blockartigen Gefüge von “Collective Jumps”und die Landschaften von “Pieces and Elements”werden durch muskelstrangähnliche Gefüge ersetzt, innerhalb derer das Führen ein Folgen beinhaltet und umgekehrt. Die Einzigartigkeit des Subjekts sich und andere zu bewegen, treibende Kraft und Motor zu sein (oder einem Motor zu folgen), ist damit in den Mittelpunkt gerückt.

“Bei ‘Reflection’ erscheinen alle Performer*innen auch als Personen, die in ihrer Einzigartigkeit mit den anderen in Verbindung stehen.”

“Collective Jumps” und “Pieces and Elements” wurden im HAU2 uraufgeführt. Mit “Reflection” gehst Du nun ans HAU1, in einen historischen Theaterbau mit besonderen technischen und architektonischen Voraussetzungen. Inwiefern hat dieser Ort die Choreografie beeinflusst?
Das HAU1 ist für mich wie ein Charakter. Es hat eine eigene Präsenz, steckt voller Geschichten und ist mit Rängen ausgestattet sowie mit einer komplexen Theatermaschinerie. Es gibt ein Portal, eine Bühne, die höher ist als das Parkett; einen ehemaligen Orchestergraben, eine Drehbühne, Versenkungen und Züge. Es ist kein neutraler Ort, der hinter dem Bühnengeschehen verschwindet, wie das so oft bei der sogenannten ‘Blackbox’ der Fall ist. Ich finde es fantastisch nach all den Jahren, an einem traditionellen Theater zu arbeiten. Meine streng formalen und abstrakten Choreografien sind der Architektur und Geschichte dieses Ortes ausgesetzt. Sie können sich daran reiben. Wir bewegen uns während der Aufführung aus dem Zuschauerraum heraus (der als sozialer Versammlungsort stark von Historie geprägt ist). Auch treten wir in Interaktion mit der Apparatur, der Bühnentechnik des HAU1, z.B. mit der Drehbühne. Sobald sich ihr Motor in Bewegung setzt, entsteht eine Kraft (neben der Schwerkraft), die auf die Biomechanik der menschlichen Bewegung einwirkt. In anderen Momenten sind es die beweglichen Züge, Theatervorhänge etc., die das Geschehen mitbestimmen. Die Theatertechniker*innen haben also jede Menge zu tun und sind Teil unserer Choreografie und unserer Prozesse…
 

“Ich bin ich fasziniert von der ‘natürlichen Bewegung’, von ihrer Einfachheit und zugleich ihrer Schönheit, Sinnlichkeit, und ihre Komplexität.”

Die starke visuelle Kraft deiner Arbeit beruht auf einer kontinuierlichen Bewegungsrecherche, die sich aus der Embryologie, somatischen Praktiken wie Body-Mind-Centering und aus dem Shiatsu speist. In “Reflection”beziehst Du zudem Elemente aus dem Aikido mit ein. Welche Beziehung hast Du zu dieser japanischen Kampfkunst und wie lässt Du sie in deine choreografische Praxis einfließen? 
Der Schlüssel für meine Recherche liegt in der Kontinuität des eigenen Lernens. Ich bin ständig dabei, selbst weiter zu lernen, Neues zu erfahren. Eigentlich geht es mir immer wieder darum, ‘natürliche Bewegung’zu erfassen. Von ihr bin ich fasziniert, von ihrer Einfachheit und zugleich - wenn sie stimmig ist - ihrer Schönheit, Sinnlichkeit, und ihre Komplexität.Vor noch fünf Jahren habe ich mich dieser Faszination hauptsächlich über BMC angenähert. Bei der ‘erfahrbaren Embryologie’ hat mich beeindruckt, wie die Entstehung des menschlichen Körpers als biologischer Prozess mit dem Außen, also der sichtbaren Form zusammenhängt; wie sie Bewegungsrichtungen vorgibt. Dieser Vorgang gleicht einem choreografischen Prozess.
Beim Shiatsu geht es ganz stark um die Verbindung von Selbst und dem Anderen und darum, wie man sich vom Gegenüber im eigenen Tun führen lassen kann. Beim Aikido rückt das Verständnis der eignen Bewegung im Verhältnis zur Schwerkraft in den Mittelpunkt: Wie können Kräfte gelenkt werden und beim Gegenüber ankommen? Wie können sie stimmig aufeinander einwirken und zu einem freien energetischen Fluss, zu einer Einheit mit dem Partner geführt werden? Im Prinzip haben all diese Praktiken eines gemeinsam: die Idee, den Innen/Außen-Dualismus über eineKörperpraxis aufzuheben, um das Innen/Außen als Einheit verstehen zu können.
Eigentlich geht es mir immer wieder darum, ‘natürliche Bewegung’zu erfassen. Von ihr bin ich fasziniert, von ihrer Einfachheit und zugleich - wenn sie stimmig ist - ihrer Schönheit, Sinnlichkeit, und ihre Komplexität.Deshalb würde ich weniger von verschiedenen Herangehensweisen sprechen, als vielmehr von einer kontinuierlichen Entwicklung, einem Weg – genannt ‘Do’ im Japanischen. Diesen Weg teile ich mit anderen, mit den Performer*innen, die teils nun schon eine lange Strecke mit mir zurückgelegt haben. Was das Aikido betrifft, habe ich das Glück, mit Gerhard Walter einen Meister gefunden zu haben, der für mich sicherlich einer der wichtigsten Lehrer überhaupt ist. Im täglichen Training bei ihm wird eigentlich nicht wirklich die Technik des Aikidos in den Mittelpunkt gerückt, sondern die natürliche Bewegung, welche auf Gewichtsverlagerung beruht. Im Einklang mit der Schwerkraft zu sein, die leichte, filigrane Balance zu finden, mit der wir die Schwerkraft überwinden, die Rotation bei der Gewichtsverlagerung zu erforschen und jede Bewegung immer wieder auf das eine, gleichbleibende Grundprinzip zurückzuführen, das ist die Kunst, die wir dort im ‘Dojo’praktizieren, und das ist faszinierend: Jede Technik wird immer wieder auf das ihr zugrundeliegende Grundprinzip der Gewichtsverlagerung zurückgeführt. Eins führt zu zehntausend (Techniken). Das tägliche Praktizieren dieser Prinzipien ist es, was mich fasziniert, was ich weitergebe und dann choreografisch in eine eigene Form bringe.

Interview: Elena Basteri

Isabelle Schad

Reflection

Im Rahmen der Trilogie “Group Works”

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