Prinzipiell, notwendig und aussichtslos antagonistisch

von Hans-Ulrich Müller-Schwefe, Sabine Reich, ­Aenne Quiñones und dem Team des HAU ­Hebbel am Ufer

Als Einar Schleef Anfang 1986, also vor mehr als dreißig Jahren, den Chor in das Theater zurückbrachte, brach er ein Tabu, jedenfalls des zeitgenössischen westdeutschen und westeuropäischen Theaters, das fortgeschrittene Individualisierung feierte, untersuchte, kritisierte. Sprechchor, Chor auf der Bühne, das erinnerte an Faschismus. Entsprechend schrill fiel der Aufschrei der Kritik, aber auch im Pub­likum aus.

Heute ist Chor auf der Bühne eine Selbstverständlichkeit, wenn es um gesellschaftliche Konflikte, um Oben gegen Unten geht – oder einfach um Abwechslung. Schleefs Inszenierungen haben den Weg bereitet. Aber bis heute hört man Chöre selten so präzise, mit solcher Nuanciertheit und Wucht, wie man sie bei Schleef hörte. Die Chöre von Schleef waren anders, sie hatten einen anderen Ton und eine andere Kraft. Sie waren anders, weil sie woanders waren. Ihr Sprechen entsprang einem anderen Ort und einer anderen Zeit: Sie waren draußen, vor dem Palast, vor der Stadt. Der Landschaft zugehörig und einer anderen Zeit. Der geltenden Zeit und ihren Regeln sich entziehend und widersetzend. Ihre Wucht und ihre Kraft bezogen sie aus Trauer und Verlust, sie legten Wunden offen und waren unversöhnlich in Schmerz und Wut. Durch diese Radikalität wurde der Chor zu dem Chor, der – wie Schleef es formulierte – “tatsächlich in eine andere Welt, besser und richtiger, auf eine zukünftige Welt verweist”.

„Die Chöre von Schleef waren anders, sie hatten einen anderen Ton und eine andere Kraft.“

Der Chor wurde nicht nur inszeniert, sondern dessen Einsatz in “Droge Faust Parsifal”, Schleefs Berliner Dramaturgie, auch klar und scharf begründet als “Der Versuch, gegen die deutschen Klassiker den antiken Chor-Gedanken zu beleben, die Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt zu erreichen, die mit der Rückführung des tragischen Bewußtseins gekoppelt ist”. Der französische Soziologe Didier Eribon hat in “Rückkehr nach Reims” die Illusion einer Auflösung der Klassengesellschaft durch Sublimierung ins neoliberal Individuelle aufgezeigt und beklagt. Bei Eribon heute wie schon bei Schleef: die ebenso unangenehme wie notwendige Erinnerung an Vergessen-Verdrängtes, ideologisch Übertünchtes.

Schleef war Bühnenbildner und Regisseur, und er äußerte sich schriftlich zu seinem Theaterbegriff, zu Regiekonzept und “Formenkanon”. Doch er war auch Darsteller, Autor, Maler, Fotograf. Als Autor grub der Künstler tiefer als ­Eribon. Schleef war Tragiker. Für den Monologroman “Gertrud” (zwei Bände, 1980 und 1984 erschienen) verwandelte sich der Westflüchtling in die eigene Mutter, um die Heimatstadt in der DDR (Sangerhausen), seine Familie und in dieser Fokussierung hundert Jahre deutscher Geschichte zum Sprechen zu bringen – radikal von unten. Von unten, aber nicht ideologisch, sondern tragisch: prinzipiell, notwendig und aussichtslos antagonistisch. Es geht um Kampf und Leid, wenig Aufstieg, viel Scheitern und Untergang. Auch jetzt, Anfang 2019, ist ein guter Zeitpunkt, um diese Sicht der Dinge zu vergegenwärtigen.

„Höchste Zeit, Schleefs Werk in die Gegenwart zu rücken.“

“Erinnern ist Arbeit” setzte Schleef 1992 als ein Motto über seine große Berliner Akademie-Ausstellung “Republikflucht Waffenstillstand Heimkehr”. Ein Ergebnis seiner Erinnerungsarbeit war “Gertrud”. Wie die Arbeit selbst aussah und wie Schleef sie reflektierte, lässt sich in den fünf Bänden des “Tagebuchs” (das von 1952 bis 2001 geführt und in den Jahren 2004 bis 2009 veröffentlicht wurde) studieren. Gegenwart ist ohne Erinnerung nicht zu verstehen. Erinnerung gibt es nicht ohne Zweifel und Hinterfragung. Kampf um die Erinnerung, auch dies ein aktuelles, von den politischen Ereignissen ebenso wie vom eigenen Leben pausenlos aktuell gehaltenes Thema. Kampf um Deutungshoheit in Sachen Erinnerung, wohin man blickt: ob es um das Dritte Reich, die DDR oder die BRD geht.

Einar Schleefs “Tagebuch” beginnt mit seinen Erinnerungen an den Aufstand vom 17. Juni 1953 – in Sangerhausen. In einer stattlichen Reihe einander korrigierender, überholender, erweiternder Anläufe versucht er, die eigenen Anstrengungen kommentierend, des Ereignisses Herr zu werden. Wiederholung und Variation.

Übrigens: Schleef war Stotterer, der allerdings auf der Bühne völlig fließend deklamierte. Auch schreibend musste er immer wieder neu Anlauf nehmen, nicht nur sprechend – wenn er sich z.B. an den 17. Juni und die Tage danach erinnerte. Das waren lauter unabschließbare Prozesse für ihn. Die Wahrheit: Unterwegs, im Trügerischen blitzt sie auf; mehr ist nicht.

Sprechen und Schreiben sind körperliche Arbeit, nicht immer durchsichtig auf das, was mitzuteilen ist. Stets teilt sich mehr mit als die intendierte Botschaft – die unverstandene Person des Sprechenden; historische und lokale Herkunft des zu Sagenden. Satzbau, Duktus und Vokabular zeigen: Keiner schrieb so körperlich wie Schleef. Das ist befremdend und kann überwältigend sein. Aufführung, Chor, Tanz, Gesang – hielten da mit.

Höchste Zeit, Schleefs Werk in die Gegenwart zu rücken.

(c) HAU Hebbel am Ufer, 2019

Alle Fotos auf dieser Seite sind aus der Inszenierung "Tarzan rettet Berlin" von Audick/Bosse/Cuvelier/Groß
(c) Francke/Schall

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