Von Stella Konstantinou, Volkan Türeli (HAU to connect), Nadine Vollmer (freie Dramaturgin) und dem Team des HAU Hebbel am Ufer
Wir hatten für diesen Sommer ein großes Programm geplant, eine Kiezparty, ein Festival am Mehringplatz. Der Anlass: Zehn Jahre Houseclub. Es sollte um die Nachbarschaft gehen, der Houseclub gehört zu ihr dazu. Er ist eine wichtige Verbindung des HAU zu seiner unmittelbaren Umgebung: Die meisten Schüler:innen leben am Halleschen Tor oder am Mehringplatz und der Houseclub ist Teil ihres Schulalltags. Sie haben beispielsweise mit der Performance “It’s a battlefield, baby” das HAU-Festival “Berlin bleibt!” im Jahr 2019 eröffnet und dabei ihre Recherchen und Erfahrungen in Bezug auf Wohnungs- und Stadtpolitik am und um den Mehringplatz mit dem Publikum geteilt.
Doch für viele Nachbar:innen ist das HAU kein selbstverständlicher Teil ihres Alltags – wie es leider die Baustelle am Mehringplatz geworden ist, die bereits zehn Jahre existiert, genauso lange wie der Houseclub. Diese Distanz im Alltag ist kein Alleinstellungsmerkmal des HAU. Wie kann eine Kultur- oder Kunstinstitution noch durchlässiger, inklusiver und wirklich ein Ort für viele werden?
Seit mehr als einem Jahr – mit einer kurzen Unterbrechung – waren die Bühnen für Zuschauer:innen geschlossen und das Theater als Ort der Versammlung musste pausieren. Auch Veranstaltungen im öffentlichen Raum mit vielen Beteiligten konnten bis in den Mai hinein kaum geplant und realisiert werden, unser Festival kann also nicht sein, was es sein sollte: ein Ort des Austauschs und der intensiven Begegnung. Über die digitale Bühne HAU4 erreichen wir seit Anfang der Pandemie unser Publikum zwar unabhängig von Ort und Zeit. Doch wie treten wir mit den Menschen in Kontakt, die direkt um die Ecke wohnen? Wie können wir zusammenkommen, wie gelangen ihre Fragestellungen ins Theater unter diesen herausfordernden Bedingungen? Wie können wir als Theater weiterhin oder noch mehr als in den vergangenen Jahren Teil der unmittelbaren Nachbarschaft sein, uns mit ihr verbinden?
Wir begreifen unser Handwerk als eine Kunst, die Begegnungen herstellt. Doch wir wollen bei solchen Begegnungen nicht nur zeigen, was wir machen, sondern dies auch jeweils ändern und neu justieren. Wir wollen Wissen verstehen als “geteiltes Wissen”, wie die Feministin und Antirassistin bell hooks sagt, als “kollektive Arbeit, die ein Lernen durch und mit anderen”2 bedeutet. Theater und Kunst können auch Ver-Lernen von bereits Eingeübtem bedeuten, im besten Fall kann Kunst aber vor allem widerständig sein. Wir wissen auch, Theater- und Kunstinstitutionen sind manchmal wenig beweglich und verweilen in ihrer eigenen Welt. Was also müssen wir verändern, ausprobieren, neu erfinden? HAU to connect? Seit Langem macht das HAU bereits Schritte in diese Richtung der Selbstbefragung und Neujustierung. Das gilt es auszubauen und als Prozess weiterzutreiben. Dazu gehören Widersprüche, Kontroversen, Fehlversuche (apropos Baustelle).
Denn: Sind die, die auf der Baustelle arbeiten oder von der Baustelle betroffen sind, auf der Bühne oder im Publikum dabei? Wenn überhaupt, dann sehr selten. Und sind die, die für die Bühne arbeiten, vertraut damit oder zumindest neugierig und offen genug, die Baustelle und die, die von der Baustelle betroffen sind, zu verstehen? Das sind keine neuen, doch immer noch relevante Fragen. Und es wird noch komplizierter: Die Baustelle Mehringplatz liegt mitten in einem Sanierungsgebiet, fast im Zentrum Berlins, doch von den Anwohner:innen gefühlt in einem “vergessenen Quartier”. Viele Gewerbe haben geschlossen, ein neues Gewerbekonzept wird aktuell vom Sanierungsbeirat erarbeitet. Die Wohnungspolitik ist in einer höchst kritischen Entwicklungsphase: kommunale Wohnungsbaugesellschaften versus Privateigentum in den Händen von Immobilienunternehmen, Mieten als Profit, absurd steigende Bodenpreise, Sanierungsrückstau in Höhe von Millionen. Was für eine Baustelle!
In Gesprächen mit Anwohner:innen und Akteur:innen oder im Quartiersrat, in dem das HAU engagiert ist, hören wir zu: Was sind aktuelle Entwicklungen in der unmittelbaren Nähe, was für eine Wirkung haben sie auf die Menschen, die Stadt und das Theater? Welche Dringlichkeit haben diese Themen jenseits von Kreuzberg und Berlin? Eine Baustelle betrifft nicht alle gleich. Wie können Kunst und Kultur sensibel auf soziale Ungleichheit reagieren? Letztlich: In was für einer Stadt wollen wir leben und wie können wir sie mitgestalten?
Mit “Berlin bleibt! #3 Werkstatt Mehringplatz” laden wir ein, verhandeln, probieren aus. Dazu gehört gegenseitiges Kennenlernen, Fragen, Zuhören, Angebote machen, gemeinsame Interessen herausfinden, Vertrauen aufbauen oder auch sich auseinandersetzen und streiten. Es geht nicht darum, als Kunstinstitution ein Programm abzuliefern und danach wieder zu verschwinden. Es geht vielmehr darum, selber aus gewohnten Bahnen auszubrechen, mit Mitteln der Kunst prozessorientierter und vielleicht auch langsamer zu werden. Wie eine selbst gewählte Baustelle, deren Plan beim Bauen selbst erst entsteht. Pläne und Baumaterialen werden dabei gemeinsam vereinbart. Wir sind noch eine Weile vor Ort und hoffen, dass das Theater es schafft, offen und wichtig zu werden für neue Mitstreiter:innen und junge Menschen. Nehmen wir uns also die Zeit, die es braucht, und die Party holen wir dann auch nach.
Diese Publikation ist selbst Teil der Werkstatt, sie ist irgendwie unfertig und spricht eine Einladung aus: Kommt vorbei. Schaut, wo wir gemeinsam dran sind. Wir stellen künstlerische Prozesse vor, die bereits begonnen haben, sowie Akteur:innen, mit denen wir kooperieren oder vorhaben zu kooperieren. Ihnen und den Anwohner:innen sind wir für den intensiven Austausch und die Zusammenarbeit besonders dankbar. Wir wissen, dass wir noch längst nicht alle kennengelernt haben, aber wir sind auf dem Weg.
Wir treffen uns diesmal im Kiez, draußen vor dem gestalteten Schaufenster in der Friedrichstraße 4 oder digital in Workshops und anderen Formen der Begegnung. Und 2022 auf jeden Fall live und in Farbe auf dem Mehringplatz.