In jeder Familie in Berlin mit Migrationsgeschichte, erzählt Hülya Kilic in einem Gespräch, gebe es eine unfassbare mietenpolitische Geschichte, die zu tun hat mit Bürokratietraumata und fehlendem Vertrauen — nicht nur in die (städtischen) Institutionen, sondern auch in die Macht der eigenen Stimme. Ihre Arbeit versteht sie dementsprechend als stadtpolitische Bildung und Empowerment und sie schlägt damit für uns eine Brücke zu jenen Erzählungen, die wir oft nicht hören.
So schnell, wie die Zeit tickt, so erlebe ich seit fünf Jahrzehnten den permanenten Wandel dieser aufregenden Stadt, aus der ich zwar einige Male ausbrechen wollte, die mich doch immer in ihrem Bann gefesselt hielt. Denn jedes Mal geschah etwas Neues. Ich bin geboren in Berlin Kreuzberg 36, und ich liebe diese Stadt. Seit einigen Jahren bin ich aktiv in verschiedenen Initiativen, die sich gegen den Ausverkauf der Stadt einsetzen. Ich bin Mitbegründerin der OraNostra, die sich seit 2018 gegen die Verdrängung des Kleingewerbes in der Oranienstraße und Umgebung einsetzt. Es fiel mir auf, dass die eigentlich Betroffenen, vor allem viele Kreuzberger:innen mit Migrationsgeschichte, in diesen Initiativen vollkommen unterrepräsentiert sind, und so fragte ich mich: Wie kommt es, dass niemand von den Menschen, insbesondere aus der ersten und zweiten Generation der Menschen aus der Türkei, die ich lange kenne und von denen ich weiß, wie lange sie sich schon selbstständig mit ihren Lebensmittelgeschäften, Imbissen, Handwerksläden, Cafés, Restaurants, Blumenläden etc. eine Existenz aufgebaut haben, Teil dieser Initiativen ist? Durch Gespräche mit ihnen und meinen Aktionen zum Schutz der Läden in der Oranienstraße und Umgebung wurde mir die Abkopplung von den stark akademisierten sowie in der Thematik lange routinierten Aktivist:innen, die einen Zirkel von Insider:innen innerhalb verschiedener Initiativen bilden, deutlich. Einerseits sind aus diesen Initiativen wichtige und wirkungsmächtige stadtpolitische Bewegungen entstanden. Andererseits vermisse ich die dauerhafte Beteiligung der direkt Betroffenen, größtenteils Menschen aus der migrantischen Community. Mit alltäglichem Lebensstress, den immer stärker wachsenden Miet- und Lebenshaltungskosten, der Versorgung der Familie und dem Kümmern um die Bildungsmöglichkeiten der Kinder, gepaart mit den tief verankerten Ängsten, den Ansprüchen des immer ausgeprägteren bürokratischen Behördenapparats nicht genügen zu können, bleibt überhaupt kein Kopf dafür, sich für seine Rechte einzusetzen, auch wenn dies dringend notwendig wäre. Dadurch entsteht eine Blockade, ein Misstrauen gegenüber dem Anderen, da sich Menschen mit Migrationsgeschichte mit oftmals traumatischen Erlebnissen stigmatisiert fühlen und sich nach außen nicht längerfristig in Initiativen wiederfinden und behaupten können.
Es handelt sich hier um eine jahrzehntelange institutionelle Erstarrung der Strukturen in Ignoranz. Umso wichtiger ist es, dass diese schlimmen Zustände ein Hauptaugenmerk der bestehenden Initiativen werden. Ich möchte hier betonen, dass ich sehr klar gesehen habe, wie wenig die elementaren und existenziellen Interessen berücksichtigt werden, die lauten:
- bezahlbarer Wohnraum,
- damit einhergehend gerechte Entlohnung von Arbeit, die es Menschen überhaupt erst ermöglicht,
- ihre Rechte wahrzunehmen zu können in Form von Teilnahme an wichtigen politischen Entscheidungsprozessen in ihrem Lebensumfeld, in ihrer Straße, im Bezirk, in der Stadt, wo sie seit vier Generationen leben.
Ein wichtiger Punkt für das Miteinander in lebendiger, diverser Form im Kiez wäre auch der Schutz des Kleingewerbes in Form eines Gesetzes, das längst überfällig ist. Denn der Ausverkauf der Stadt ist in vollem Gange. Diese Entwicklung ist fatal! Es sollte nach fünf Jahrzehnten doch möglich sein, dass alteingesessene Menschen mit Migrationsgeschichte im Kiez mit einer eigenen Stimme und gleichberechtigt stadtpolitische Prozesse aktiv mitgestalten können. Hier besteht akuter Aktionsbedarf!