Das kontrolllogische Theater der digitalen Loge
Das Theater ist unter dem Einfluss des Coronavirus vor allem mit der Ordnung oder Unordnung seiner Körper und seines Raums konfrontiert, ist doch die von der Politik verfügte Schließung von Theaterhäusern dem Umstand geschuldet, dass sie als Orte der Versammlung und Ansammlung von Körpern die unkontrollierbare Ansteckung der Massen zu befördern drohten. Die “körperliche Begegnung, die Kopräsenz von Künstler*innen und Zuschauer*innen in einem Raum”, und damit “die Grundeinheit” der performativen Künste, schreiben die Dramaturgen Maximilian Haas und Joshua Wicke, “ist plötzlich zum Risikofaktor geworden.”[9]
Neben den drastischen ökonomischen Auswirkungen der erzwungenen Theaterpaus[10] handeln die Theaterdiskurse deshalb vor allem von räumlichen Ausweichstrategien, besonders von der Möglichkeit, den Bühnenraum ins Digitale zu verlagern. Bemerkenswert ist dabei weniger der Abwehrreflex gegen das Streaming von Aufführungsmitschnitten, der mit dem Argument vom Verlust der angeblichen Unmittelbarkeit des Aufführungsereignisses untermauert wird, sondern die Wiederkehr von Interaktion und Partizipation in Form der euphorisch vorgetragenen Idee, das Theater neu zu erfinden auf der Basis der digitalen Zwei-Weg-Kommunikation mit den Zuschauer*innen, die dadurch zu hinter den Bildschirmen Handelnden in einem semiotechnischen Erfahrungsraum würden.[11]
Unerwähnt bleiben die sozio-politischen wie machttechnologischen Implikationen dieser Verschiebung zur digital-interaktiven Theaterloge. Das beginnt mit der ironischen Pointe zum Zeitgeschehen, dass sich das Theater genau jenen Kommunikationsarchitekturen zuwenden soll, die in Staaten wie Südkorea aktuell zum Einsatz kommen, um der Verbreitung des Virus, anders als in Europa, nicht disziplinär mit Ausgangssperren, sondern kontrolllogisch mit zielgenauer Überwachung und Lenkung zu begegnen, wie Philipp Sarasin und Paul B. Preciado betont haben.[12] Das dortige Vorgehen, einzelnen Bürger*innen auf deren Smartphones anzuzeigen, dass sie infizierten Personen ausweichen sollen, beruht auf ständigen Inputs durch Standort-Lokalisierung, gepaart mit Daten aus den Massentests zur Infektions-Diagnostik, die zusammen ein zentral observiertes, aber in sich distribuiert verfasstes Netzwerk ergeben, das in Mobilität und Schnelligkeit seiner Informationsverteilung der Ausbreitung des Virus durch dessen eigenes biologisches distribuiertes Netzwerk gewachsen sein soll. Die gleichen Kontroll-Strukturen würden ein digitales Interaktionstheater auszeichnen, bloß, dass sie in diesem Fall nicht angewendet würden, um die Bewegung der Körper aufrecht zu erhalten, sondern vielmehr um sie obsolet zu machen, weil das Theater fortan nach Hause kommt. Im Übrigen sind Ansätze zu einem kontrolllogischen Theater nicht neu, hat doch schon 1964 der Kybernetiker Gordon Pask in seinen “Proposals for a cybernetic theatre” die Vision einer interaktiven Theaterarchitektur entworfen, die eine allumfassende Kontrollmatrix des Verhaltens von Publikum und Akteuren bedeutet.[13]
Die Vorstellung des chaotischen Raums
Die so umrissene Anordnung des digitalen Heimtheaters passt sich ein in die allem Anschein nach entstehende Landschaft von mindestens drei sozio-politisch besetzten Räumen und Körpern, die sich aus Preciados Analyse ergeben und je eigene Trennungen wie Durchlässigkeiten bezeichnen.[14] Der Raum des Theaterusers ist identisch mit dem Zuhause, dem Domizil, das man nicht mehr körperlich, sondern nur noch als Zeichen verlässt, als akusmatische Stimme und verrechnete Variante des eigenen Gesichts. Zum selbst gewählten physisch-mechanischen Gefängnis umfunktioniert, ist das Heim zugleich die Kommandostelle des semiotischen Hinausreichens in den digitalen Raum, wobei freilich auch im bloß semiotischen Austausch die Gefahr der Ansteckung lauert, allerdings nicht durch biologische Erreger, sondern durch Computerviren.