Liebes Publikum – Online,
eigentlich sollte heute unser Festival “Spy on Me #2 – Künstlerische Manöver für die digitale Gegenwart” feierlich eröffnet werden. Doch wie jede*r in Berlin, Deutschland, Europa und so vielen anderen Ländern weltweit tragen auch wir unseren Teil gegen die schnelle Ausbreitung des Coronavirus bei und haben vorläufig bis 19. April den Theaterbetrieb eingestellt. Wie Sie sehen, befinde ich mich – abgesehen von einem kleinen technischen Team , danke! – allein im HAU Hebbel am Ufer.
Doch auch wenn Kulturveranstaltungen in diesen Zeiten nicht leibhaftig stattfinden können, versuchen wir, uns zumindest die joie de vivre und unsere Lust an der Reflexion zu bewahren – und damit einen entscheidenden Teil unserer Arbeit am Theater. Auch unter den aktuellen Umständen wollen wir vom HAU die Idee von Öffentlichkeit und vom Theater als Ort der Zusammenkunft nicht aufgeben. Lassen wir uns nicht von dem Virus in die Isolation treiben. Nutzen wir unsere Möglichkeiten, um eine breite Solidarität in der Kunst und im Alltagsleben zu fördern. !
Als wir im letzten Jahr begannen, das Programm von “Spy on Me #2” auszuarbeiten, konnten wir noch nicht ahnen, welche neue Relevanz der Ankündigungstext für unser Festival bekommen sollte: “Wir sind angekommen in der Realität des digitalen Wandels. Das Leben mit Screens, Apps und Algorithmen prägt unser Verhalten, unsere Aufmerksamkeit und unser Begehren. Derweil vollzieht sich eine Re-Organisation des öffentlichen Raums und der Demokratie mit digitalen Mitteln.” Wenn man sich eingehender mit der politischen und moralischen Dimension von Technologie befasst, kann leicht ein Gefühl von Machtlosigkeit und Überforderung entstehen: Wie gehen wir (als Gesellschaft) damit um, dass die individuelle und gesellschaftliche Selbstbestimmung mithilfe von Daten zunehmend unrealistisch erscheint? Oder dass Datenschutz und echte Digitalkompetenz nach wie vor ein Privileg sind? Eine zentrale Frage für das Festivalprogramms lautete: Wie können wir eine Diskussion anstoßen, die unserem Gefühl der Ohnmacht entgegenwirkt, uns vor allem aber auch Handlungsoptionen und Auswege eröffnet?
Doch dann mussten wir unsere Pläne ändern. In den vergangenen neun Tagen – tatsächlich erst neun Tage! – haben wir mit den am Festival beteiligten Künstler*innen, deren Beiträge sich an Onlineformate anpassen ließen, neue künstlerische Manöver für die digitale Gegenwart ausgearbeitet. Leider funktionieren Theater und Tanz nur bedingt ohne die physische Anwesenheit von Performer*innen, Mitarbeiter*innen und Zuschauer*innen – und natürlich lieben wir beides genau deshalb! Doch mit dem Festival wollten wir nicht zuletzt über das Theater in der digitalen Zukunft nachdenken, und so sind wir glücklich und stolz , verschiedene Onlineformate präsentieren zu können, durch die Sie – in veränderter Form – an den künstlerischen Manövern der Künstler*innen teilhaben können: Danke dgtl fmnsm, NewFrontears & Oozing Gloop, James Bridle, Jonas Staal & Jan Fermon für die Hingabe, mit der Ihr Eure Projekte in einer sich täglich verändernden Situation in eine Onlineform gebracht habt.
Den Anfang macht die Keynote von James Bridle, die er für “Spy on Me #2” entwickelt hat. Statt nach Berlin zu kommen, hat er seinen Vortrag zu Hause in Griechenland aufgenommen, was dem Ganzen, wie Sie sehen werden, eine besondere Aura verleiht.
Wieso sind wir so besessen von einer Technologie mit dem Potenzial, uns zu kontrollieren und zu zerstören? Und was ist mit dem Hype um die Künstliche Intelligenz? Mit diesen Fragen befasst sich James Bridle im ersten Teil seines Vortrags, der auf sein Buch “New Dark Age. Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft” zurückgeht, eine wesentliche Inspirationsquelle unseres Festivals. Im Anschluss schlägt er einige Manöver für die Zukunft vor, die wir sofort, hier und jetzt, umsetzen können – insbesondere heute, da wir noch mehr als sonst von unseren digitalen Geräten abhängig sind. Welche Technologien nutzen wir und wollen wir nutzen? Was können wir von “anderen Intelligenzen”, von Tieren, Pflanzen und Ökosystemen, lernen?
Fern von Technologiefeindlichkeit plädiert Bridle für eine nachdenklichere Beschäftigung mit Technologie, gepaart mit einem radikal anderen Verständnis dessen, was sich über die Welt denken und wissen lässt. Ich denke, dass die Beschäftigung mit anderen Intelligenzen, wie James Bridle es praktiziert, uns neue Formen des Denkens erschließen kann – und in gewisser Hinsicht auch neue Formen des Sehens. Wir brauchen neue Komplizen. Das Überdenken unserer Beziehungen zu unserer Umwelt ist ein entscheidendes Manöver aus der digitalen Finsternis.
Wir laden Sie ein, unser kostenloses “Spy on Me #2”-Onlineprogramm zu besuchen; die jeweiligen Screening-Zeiten finden Sie auf unserer Webseite. Jede Veranstaltung geht zu einer bestimmten Zeit online, sodass wir uns alle gleichzeitig vor unseren Bildschirmen versammeln können. Halten wir die Idee des Zusammenseins am Leben! Sämtliche Videos bleiben auf dem Youtube-Kanal des HAU verfügbar, sofern es nicht anders vermerkt ist. Leider bekommen wir in diesen Zeiten nicht die direkten Reaktionen der*des anderen mit. Doch wir und die Künstler*innen würden uns freuen, von Ihnen zu hören, ob per Mail, Facebook, Twitter oder Instagram.
Und jetzt wünsche ich Ihnen erst einmal eine anregende Stunde mit James Bridle. Im Anschluss an den Vortrag können Sie ebenfalls im Rahmen von “Spy on Me #2” seinen jüngsten Film “Se Ti Sabir” sehen. Stay tuned und geben Sie auf sich und ihre Mitmenschen acht!