Das Glastonbury Festival im Juni 1992 in Südengland: Morrissey, Lou Reed, PJ Harvey, The Fall und viele andere – ein Line-up, das sich sehen lassen kann. Und nicht nur Musik, auch Performance, Zirkus und Comedy sind im Programm. Mitten- drin einige Student*innen der Nottingham Trent University. Sie hatten sich beim Kurs “Creative Arts” kennengelernt und, wie Sean Patten erzählt, “damals die Gruppe gegründet, um mit einer Open-Air-Performance beim Festival umsonst rein- zukommen”. Schnell musste für den Auftritt auch ein Name her. Auf der Autofahrt nach Glastonbury fand sich zufällig ein Mixtape, das jemand mit “Gob Squad” beschriftet hatte. Ja, warum nicht, das sollte es sein: Gob Squad, eine Mischung aus – frei ins Deutsche übersetzt –: “Fresse/Schnauze” und “Truppe/Gruppe”, irgendetwas zwischen Liveband und herumziehender Theatertruppe.
Die Professor*innen des Kurses an der Universität in Nottingham stammten teilweise aus der Fluxus-Bewegung und favorisierten einen interdisziplinären Kunstbegriff, in dem Kunst und Alltag nicht voneinander zu trennen sind. “Man wurde nicht zur/zum Spezialist*in ausgebildet, sondern zur/zum Künstler*in, die/der nach Bedarf frei die Disziplinen und Methoden wechselt”, so Simon Will.
Glastonbury – Nottingham – Giessen
Kunstformen wie Interventionen im öffentlichen Raum, Happening und Performance gehörten zum Ausbildungsprogramm. Joseph Beuys galt als eine der zentralen Bezugsfiguren, aber auch internationale Performancegruppen, wie die Wooster Group aus New York, waren richtungsweisend. Oder man besuchte im nur 50 Kilometer entfernten Sheffield die aktuellen Aufführungen von Forced Entertainment, der damals schon stilbildenden Live-Art-Company um den Autor und Regisseur Tim Etchells.
Kurze Zeit später trafen bei einem Austauschsemester in Nottingham Johanna Freiburg und Berit Stumpf, zwei Studentinnen vom Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, auf ihre englischen Kolleg*innen. Ihr Studium war geprägt durch eine enge Verbindung von Theorie und Praxis. Andrzej Wirth, der Begründer des Instituts, sorgte von Anfang an dafür, dass die Student*innen neben den Arbeiten von Robert Wilson und Heiner Müller mit Performance Art und der amerikanischen Theateravantgarde der 1970er Jahre vertraut gemacht wurden. Gleich nebenan, im benachbarten Frankfurt am Main, konnten sie am Theater am Turm viele damalige Erneuer*innen des Theaters ein- und ausgehen sehen, von Marina Abramović, Laurie Anderson oder der Wooster Group bis hin zu Jan Lauwers und der Needcompany, Rosas oder Jan Fabre.
Darüber hinaus waren insbesondere Brechts Lehrstücktheorie und das praktische Ausprobieren und gemeinsame Überprüfen von Theatermitteln und damit verbundenen Wahrnehmungsweisen wichtige Bestandteile des Ausbildungsprogramms.
Künstlerische Autonomie und selbstbestimmtes Arbeiten gehörten von vornherein zum studentischen Alltag: »Der Witz dieses Instituts bestand darin, dass man uns mit ungeordneten Inspirationen beworfen hat. Da standen nebeneinander ganz viele, ganz merkwürdige und schlecht zusammenpassende Lerninhalte, aus denen man sich die schönsten aussuchen konnte. Daraus Sinn zu generieren, war einem selbst überlassen«, so Lisa Lucassen, ehemalige Studentin und Mitglied des Performancekollektivs She She Pop. Offensichtlich hat dieser glücklicherweise wenig didaktische Ansatz dazu geführt, dass sich damals viele junge kreative Köpfe unter einem Dach versammelten und entsprechend gefördert werden konnten. Nicht nur Gob Squad, auch Künstler*innen und Gruppen wie She She Pop, Hans-Werner Kroesinger, René Pollesch, Rimini- Protokoll und Showcase Beat Le Mot, um nur einige zu nennen, schreiben als Absolvent*innen des Gießener Instituts mittlerweile selbst Theatergeschichte und haben nachfolgende Generationen beeinflusst.