Die englische Fassung dieses Texts schrieb das Künstler:innenduo NewfrontEars im Auftrag des HAU Hebbel am Ufer im Februar 2022.
Im März 2020 sollten wir gemeinsam mit Performance-Künstler:in Oozing Gloop eine performative Installation für das Festival “Spy On Me #2 – Künstlerische Manöver für die digitale Gegenwart” im HAU präsentieren. Dann kam der Lockdown und wir bastelten mit unserer langsamen Breitband-Internetverbindung eine Livestream-Version zusammen. Es war ein heilloses Durcheinander, aber es war lebendig und wurde von einem widerständigen Geist gegen die Umstände getragen. Der zweite Stream wurde mittendrin von YouTube abgebrochen, als Gloop anfing, eine Banane in Gloops Hose zu essen. Ja, es war sexy... aber Gloop ist sexy. Wir lachten darüber und und fühlten uns wie ungezogene Kinder, die buchstäblich auf ihre Zimmer geschickt worden waren. Die Auswirkungen auf künftige Arbeiten und Fragen zur Zensur waren enorm.
Wir alle werden von einem System bevormundet, das maschinelles Lernen einsetzt, um Nuancen auszumerzen. Erwachsen zu werden ist heute ein Akt des Widerstands, aber wir können uns weigern, schnöde Kästchen in einer psycho-quadratischen Welt aus flachen Pixeln, Chips, Bildschirmen, Plattformen und kommerziellen Servern zu sein. Immerhin sind wir nasse, zappelige, stinkende Wesen. Wir denken in Schleifen und haben viel mehr mit den uns bevölkernden Bakterien gemein als mit der Hardware und den Unternehmen, die unsere digitalen Realitäten hosten.
Wie können wir uns also von dem ganzen Mist lösen? Wir sollten hoffnungsvoll sein, denn seht nur, wie weit wir es gebracht haben! Wir sind autodidaktische Schöpfer:innen unserer digitalen Ichs. Unserer vielen, mehrdimensionalen Identitäten, die an verschiedenen Punkten in der digitalen Raumzeit existieren. Selbst nach unserem Tod sind unsere Daten für diejenigen, die uns lieben, von Bedeutung. Aber gesellschaftlich sind wir in die Shopping Mall hineingetrieben worden, und wir brauchen einen Ausweg. Wir müssen die Risse zwischen den tektonischen Platten des Überwachungskapitalismus aufspüren. Wir müssen uns vorstellen, wie elektrische Fische durch eine radikale, neue, rhizomatische Architektur zu schwimmen und eine Art “offene Landkarte” zu schaffen, die von jedem Punkt aus zugänglich ist.
Diffuse Erinnerungen an das Berliner Nachtleben der späten 90er-Jahre lassen uns an dieses Potenzial denken. Mit seinen temporären Räumen und nächtlichen Improvisationen ... Nebel der Unbestimmtheit, dunkle Ecken, Flure als Tanzflächen, Bars als Bühnen und Toiletten zum Fabulieren. Wir empfanden die Stadt als Spielwiese, aber wir wussten auch, dass dies vermutlich nicht von Dauer sein würde. Die Weite des digitalen Raums ist nicht unbedingt Teil derselben Geschichte. Wir haben die Möglichkeit, unbegrenzt transitorische Räume zu schaffen. Error-Clubs, Soundsysteme für Whistleblower:innen, Festivals des Zweifels, themenlose Parks, Grenzpfade. Wir können neue Geräusche für neue Gefühle schaffen. Wir können den Code für “Autsch” schreiben. Die Art und Weise, wie wir uns in diesen Räumen aufhalten und bewegen, birgt unendlich viele Möglichkeiten, ebenso wie unsere nicht-lukrativen Beziehungen zur Zeit. Wir können Welten aufbauen und sie zerstören. Wir können den Markt verwirren, indem wir uns von Begriffen oder Kategorisierungen entfernen und uns das Scheitern, den Dilettantismus und die Hässlichkeit zu eigen machen.
Real life Kultureinrichtungen wie das HAU ermöglichen uns physisches Zusammensein und sind mit HAU4 nun auch untrennbar und grundlegend mit dem Aufbau eines neuen digitalen Netzwerks verbunden. Ein Netzwerk, aus dem Ökosysteme für Diskurs, Spiel, Performance und Fantasien erwachsen können. Das ist ein Prozess, aber vielleicht erschaffen wir in der Zwischenzeit digitale Eingangspunkte vom Innern der Shopping Mall ... markiert durch die “Ungebetenen” und diejenigen, die “fehl am Platz” sind. Wie Unkraut und Pilze, die zwischen den Pflastersteinen einer Stadt auftauchen.
Unsere eigene Arbeit schöpft Hoffnung aus diesen Punkten. Aus der Unbeholfenheit. Aus dem Raum, der dadurch entsteht, dass wir sowohl das Reale im Digitalen als auch das Digitale im Realen positionieren. Es gibt eine Leerstelle darin, eine Unterbrechung, die Potenzial birgt. Es kann sich sogar wie ein Ort anfühlen, an dem sich die Zeit verlangsamt. In unserer Avatarkampagne für das HAU (2017) wollten wir den Betrachtenden diese Schnittstelle des Sonderbaren zeigen.
Viele von uns haben erst spät damit begonnen, unser Denken zu rehabilitieren, unsere Erwartungen in Frage zu stellen und unsere Geschichten wertzuschätzen. Geschichten, welche die Algorithmen der Plattformen füttern, die uns wiederum in permanenter Geiselhaft halten. Aber wir sind auf Zugehörigkeit gepolt und wir können uns gegenseitig in unseren Prozessen unterstützen ... vielleicht finden wir eine kollektive DNA, die außerhalb repressiver Systeme existieren kann. Und zurück in unseren Körpern, zurück in unseren Zimmern, können wir uns dann daran erinnern, dass wir kein Projekt der absoluten Gewissheit sein müssen und dass das Missverstehen durch Algorithmen ein Stichwort für unseren Widerstand sein kann.