Öffentlich werden (*1)
Das Verständnis von Öffentlichkeit, das in den liberalen Medien und der politischen Theorie, in der Wissenschaft und zum Teil auch in der Kunst reproduziert wird, suggeriert oft, dass der Akt des Öffentlichwerdens nicht nur harmlos ist, sondern auch als äußerst lohnenswert angesehen werden sollte. (*2) Aus der Perspektive der Ausgeschlossenen, Unterdrückten und Marginalisierten stellt der öffentliche Raum jedoch keine so einfache, glückliche Konfrontation mit dem Alltäglichen dar, sondern ist eine privilegierte Zone. Diejenigen, die sich darin bewegen dürfen, haben die Möglichkeit, ihre politischen Interessen zu äußern und ihre politischen Sorgen zu teilen, während diejenigen, die von ihm ausgeschlossen werden, vielen Belastungen ausgesetzt sind – ungewollte Publicity, Segregation, Marginalisierung und Diskriminierung. (*3) Mit der Ausnahme einzelner kultureller Schlüsselfiguren der 1950er- und 1960er-Jahre, gegen die der Geheimdienst ermittelte, war der homosexuelle Anteil der polnischen Bevölkerung nahezu gänzlich unsichtbar. Dies änderte sich mit dem plötzlichen Beschluss des polnischen Polizeipräsidiums (MO) in Warschau im Herbst 1985, schwule Männer im Rahmen einer landesweiten Maßnahme namens “Hiacynt” zu untersuchen. Die Aktion wurde 1986 und 1987 wiederholt, wie die Dokumentation der “Hiacynt”-Verfahren im Staatsarchiv des Instituts des Nationalen Gedenken (Instytut Pamięeçi Narodowej, IPN) belegt. (*4)
“Aus der Perspektive der Marginalisierten stellt der öffentliche Raum keine so einfache, glückliche Konfrontation mit dem Alltäglichen dar, sondern ist eine privilegierte Zone.”
In diesem Text werde ich einen kurzen Überblick über die Maßnahme “Hiacynt” geben. Mein Bericht basiert auf den Ergebnissen meines Archivaufenthalts in den Staatsarchiven der IPN im April und Juni 2015 und ist in einen größeren Forschungskontext eingebettet, der sich mit dem Thema “queering the archives” (“Durch-Queeren der Archive”) beschäftigt. Ich verstehe “queering the archives” nicht nur als eine Entwicklung, die sich aus Grassroot-Archiven sexueller Minderheiten ergeben hat, sondern auch als eine transformative Kritik des Modus Operandi bestehender Staatsarchive. Auf diese Weise setze ich mich kritisch mit dem Problem des Archivs auseinander, gemäß einer “Kritik der Repressionshypothese”, wie Foucault sie formuliert und geprägt hat.
A la recherche des archives perdus. Die Akten der “Hiacynt”-Operationen
“Hiacynt” ist der Name dreier Polizei- und Geheimdienstoperationen, die jeweils ungefähr 48 Stunden andauerten und in den Jahren 1985, 1986 und 1987 in Polen durchgeführt wurden. Es sei daran erinnert, dass die Archive der polnischen Polizei und der Geheimdienste zu fast 90 Prozent zerstört wurden, anders als zum Beispiel in der Tschechoslowakei oder in der DDR, wo vergleichbare Archive zu großen Teilen erhalten sind. Damals bestand der polnische Staat aus 49 Regionen. Die Archive des IPN stellten mir lediglich für neun dieser Regionen Informationen zur Verfügung.
Das Datenmaterial der IPN-Archive über die “Hiacynt”-Maßnahmen sollte nicht als einzige Informationsquelle über die Vorkommnisse verstanden werden. Laut Aktivist*innen der Schwulenbewegung wurden allein am 15. November 1985 circa 3.000 Menschen auf Polizeireviere gebracht und verhört. Zeug*innen behaupten, dass gegen circa 11.000 Männer ermittelt wurde. (*5) Die Hauptziele der “Hiacynt”-Maßnahmen wurden in den Dokumenten, die das Polizeipräsidium in Warschau herausgab, wie folgt definiert: Homosexuelle Kreise sollten untersucht und homosexuelle Prostituierte registriert werden, Wissen über mögliche AIDS-Fälle sollte dokumentiert und mehr über junge Männer in Erfahrung gebracht werden, von denen manche homosexuell wurden, während sie auf der Flucht waren, usw. Das erste Dokument, mit dem das “Hiacynt”-Verfahren von 1986 ausgelöst wurde, legte fest, dass die Maßnahme Individuen, die bereits vom Geheimdienst überwacht wurden, nicht betreffen sollte. Damit ist höchstwahrscheinlich die politische Opposition gemeint. Es scheint tatsächlich so, als ob es unter den Polizeikräften ernsthafte Bedenken bezüglich AIDS und ungelöste Kriminalfälle gab – aber auch ein Bestreben danach, den “unbekannten” Bevölkerungsanteil schwuler Männer zu kontrollieren.
“Aktivist*innen der Schwulenbewegung erinnern an die Gewalt, die Verhaftungen und Bedrohungen, und doch hat der Staat seine vergangenen Handlungen nie verurteilt.”
Am 14. Oktober 1985 gab das polnische Polizeipräsidium in Warschau einen “Rahmenplan der landesweiten Maßnahme ‘Hiacynth’” heraus, unterschrieben von Vize-Polizeichef General Zenon Trzcinski. In diesem Rahmenplan finden sich generelle Beschreibungen der Ziele, Strategien, Taktiken etc. einer Maßnahme, die am 15. November 1985 um 8 Uhr morgens beginnen und am 16. November 1985 um Mitternacht enden sollte. Der angeblich kommunistische Leviathan folgt eindeutig einer “fürsorglichen” Logik. Der erste Grund, der zur Legimitierung der Maßnahme angegeben wird, ist die Erfolglosigkeit bei der Lösung von Mordfällen mit homosexuellen Opfern. Der Staat agiert demzufolge nicht im Sinne eines Verbots homosexueller Handlungen, sondern als eine lenkende, fürsorgliche Instanz. In Übereinstimmung mit Foucaults einigermaßen ironischem Narrativ, das er in “Society Must Be Defended” näher beschreibt, versuchten die Vertreter*innen des polnischen Staats, für ihre Bürger*innen zu “sorgen”, sie auf eine klassisch “pastorale” Weise zu beschützen. (*6)
Interessanterweise findet sich auch in den Polizeiakten eine gewisse Form des Widerstands. In der kleinen Stadt Police und drei anderen kleinen Städten in der Nähe von Szczecin weigerte sich die Polizei, die “Hiacynt”-Operationen durchzuführen, weil, wie sie in ihren Notizen schreibt, “kein homosexuelles Milieu in unserer Region festgestellt werden konnte”. (*7) Dies könnte Faulheit oder Ungehorsam gewesen sein, aber vielleicht war es mehr als das – ein plötzlicher Akt der Verweigerung, beruhend auf Anstand? Der Polizeichef in Szczecin ordnete an, dass alle schwulen Männer in Szczecin registriert werden sollten, was zu einer Liste von 450 Männern im Jahr 1985 und 550 Männern in den darauffolgenden Jahren führte. Eine solche Registrierung schwuler Männer wurde in den Dokumenten, die das Polizeipräsidium in Warschau herausgab, nicht als notwendige Aufgabe aufgeführt. Demgegenüber scheint die Polizei in Białystok die Akten ungelöster Verbrechen gegen homosexuelle Männer neu zu öffnen und tatsächlich so etwas wie Polizeiarbeit zu leisten. Die Registrierung schwuler Männer in dieser Region wird nicht ausdrücklich erwähnt. Wir müssen hierbei aber beachten, dass die IPN-Akten generell unvollständig sind. (*8)
Die Privatsphäre wurde zu einem grundlegenden Bestandteil des gängigen Bildes eines “guten Lebens” und ist als solche natürlich nostalgisch, d.h. sie basiert auf einer höchst unwahrscheinlichen und eindeutig unerreichbaren, idyllischen “Vergangenheit”. Irgendwie sind wir “nostalgisch”, wenn es um Privatsphäre geht. Wir fantasieren über das Private, ohne anzuerkennen, dass es aus Zusammenhängen besteht, dass es vom jeweiligen Kontext abhängt, zum Beispiel von unseren eigenen Verkörperungen [“embodiments”], von historischen und kulturellen Bedingungen und der Wirtschaft. Der polnische Staat bedient oft die fürsorgliche Logik des Schutzes der Privatsphäre und vernachlässigt dabei die Tatsache, dass eine Gesellschaft befugt sein sollte, eindeutigen Fällen von staatlichem Machtmissbrauch nachzugehen. Aktivist*innen der Schwulenbewegung erinnern an die Gewalt, die Verhaftungen und Bedrohungen, und doch hat der Staat seine vergangenen Handlungen nie verurteilt. Es muss daher Teil der “aktivistischen Gerechtigkeit” und unserer Forschungsethik werden, nach Anerkennung für jene zu verlangen, die von Maßnahmen wie “Hiacynt” betroffen waren. Wir müssen Druck auf staatliche Institutionen ausüben, damit diese ihre Verantwortlichkeit für solche Maßnahmen eingestehen.
Dieser Text ist in der HAU-Publikation zum Festival “The Present Is Not Enough – Queer Histories and Futures” erschienen.
Er gehört thematisch zu einer weiterreichenden Diskussion über den Widerstand gegen sich ständig verändernde Machtapparate, in die in letzter Zeit überraschend “fürsorgliche” oder “mütterliche” Aspekte eingebracht wurden – im Gegensatz zur Figur des “pater familias” aus dem Römischen Recht und vormodernen Zeiten (*9). Während die fürsorglichen Aspekte der Staatsgewalt seit Foucault und seiner Theorie der Bio-Macht ausführlich analysiert wurden, bedarf der Wechsel von “väterlichen” zu “mütterlichen” “fürsorglichen” Formen der Staatsgewalt noch immer einer kritischen feministischen Interpretation.
Übersetzung aus dem Englischen von Mieke Woelky.