In ihrem Essay blickt die Autorin und Wissenschaftshistorikerin Edna Bonhomme zurück auf “Radical Mutation: On the Ruins of Rising Suns”. Das von Nathalie Anguezomo Mba Bikoro, Saskia Köbschall und Tmnit Zere für das HAU Hebbel am Ufer kuratierte Festival fand vom 23.9. bis 4.10.2020 im HAU1 und digital auf HAU4 statt – im Herbst eines Jahres also, das nicht nur vom Coronavirus bestimmt war, sondern auch von immer offensichtlicher werdenden gesellschaftlichen Ungleichheiten und Rassismus. Durch die Sichtbarmachung von queeren und BIPoC Erzählungen beschwor “Radical Mutation” einen kollektiven Widerstandsgeist in künstlerischem Antlitz herauf.
Letztes Jahr hat die Biologie ihr Comeback gefeiert. Wissenschaftliche Begriffe wie mRNA, Genom und Virus erhielten plötzlich Einzug in den alltäglichen Sprachgebrauch. Menschen begannen sich dafür zu interessieren, wie Krankheiten sich ausbreiten. Die Frage, warum manche von uns anfälliger sind als andere, lag vielen schwer auf der Seele. Schuld daran sind das Coronavirus und die globale Pandemie, die es ausgelöst hat. Wir alle versuchen nicht nur den Ursprung des Krankheitserregers zu verstehen, sondern auch die Veränderungen, die er durchläuft: die Mutationen, die den genetischen Fußabdruck des Virus markieren. Der Begriff “Mutation” geht auf das Lateinische “mutatus” zurück, die Partizip-II-Form von “mutare”. Er bedeutet etwas oder sich “ändern”. Eine Veränderung erlebte auch die Coronapandemie zu Beginn des Jahres, als das Virus mutierte und eine ohnehin schon erschöpfte Welt in noch größere Unruhe versetzte. Dabei sind solche Mutationen nicht ungewöhnlich. Viren verändern sich, um ihr Überleben zu sichern, vor allem, wenn sie auf Bedingungen treffen, die ihre Ausbreitung erschweren.
Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben unterschiedliche Veränderungen bewirkt, vom globalen Innehalten bis zum globalen Aufruhr. Der Aufruhr war jedoch nicht allein auf SARS-CoV-2 zurückzuführen, sondern auch auf neue Fälle von Polizeigewalt. Forscher:innen, Wissenschaftler:innen und Journalist:innen haben sich mit rassistischen Formen der Ungleichheit und dem gesellschaftlichen Unbehagen beschäftigt, das durch diese Ungleichheit ausgelöst wurde. Die Schwarze Historikerin Keenga Yahmatta Taylor (Princeton University) schrieb in einem Essay mit dem Titel “Black Death” für den New Yorker über die Verbindungen zwischen den verschiedenen Arten des Aufruhrs. Sie bemerkte, dass Schwarze US-Amerikaner:innen häufiger unter Vorerkrankungen litten als weißeund eine Infektion mit dem Coronavirus für sie deshalb auch häufiger tödlich verlaufe. Die Autorin Zadie Smith beschäftigte sich in ihrem letztjährigen Essayband “Intimations”ebenfalls mit dieser Ungleichheit. Ihr Buch handelt von der Gewohnheitsmäßigkeit des Schwarzen Sterbens in den USA. “Der Tod ist unter uns in Amerika”, schreibt Smith, “das war schon immer so, auch wenn seine Anwesenheit lange Zeit vertuscht und geleugnet wurde. Jetzt ist er nicht mehr zu übersehen.” Die Autorin verweist damit auf den überproportionalen Anstieg der Sterblichkeit unter Schwarzen, Indigenen und People of Colour, der durch Covid-19 ausgelöst wurde, aber auch Hierarchien offenlegte, die bereits vorher existiert hatten. Ein Phänomen, das sich derzeit nicht nur in den USA beobachten lässt.