Den belarusischen Ereignissen nach dem 9. August 2020 sind inzwischen viele Artikel belarusischer und internationaler Expert:innen gewidmet. Diese Texte beschäftigen sich vorwiegend mit dem Festhalten der Ereignisse und der Analyse des Charakters von Protesten, die so gut wie alle soziale Gruppen umfassen und unterschiedliche Formen einnehmen: Vom zivilen Ungehorsam und italienischen Streik über Nachbarschaftsfeste, individuelle und kollektive Solidaritätsbekundungen bis zu Stellungnahmen und Märschen. Auch wenn ein Diskussionsfeld inzwischen entstanden ist, mangelt es an Besprechungen von Zukunftsszenarien, was durch unterschiedliche Gründe erklärt werden kann, darunter auch durch die Sorge, den Protest zu demotivieren.
FELIX ACKERMANN: Ich befinde mich derzeit in Polen. Davor fuhr ich für eine Woche nach Berlin und kehrte in ein anderes Polen zurück – ein Land, in dem eine Protestwelle gegen das neue Abtreibungsgesetz aufkam, das jegliche Eingriffe aus medizinischen Gründen verbietet. Tausende von Frauen gingen auf die Straße, um gegen das Gesetz zu protestieren. Das heißt, was in Belarus geschieht – ich meine in erster Linie die Massenaufmärsche der Frauen – wird bereits exportiert. Dabei geht es nicht nur um Märsche als solche, sondern auch um die besondere Rolle der Frauen bei diesen Märschen und den Verzicht auf traditionelle Formen der politischen Parteienbildung mit sichtbaren patriarchalischen Anführern im Zentrum. In Polen wurde auch ein Koordinationsrat gebildet, zu dem Nichtpolitiker eingeladen sind. Das Wichtigste ist, dass es nicht nur um einen Kampf für Frauenrechte geht, sondern ganz grundsätzlich für politische Rechte sowie für eine andere Art der Gesellschaftsgestaltung. Der Bezug auf Belarus ist da ganz explizit.
ELENA GAPOVA: Die Ereignisse entwickeln sich rasch. Noch vor einem Monat hätte ich über anderes gesprochen und andere Optionen und Möglichkeiten für die Zukunft in Betracht gezogen. Damals schien die Möglichkeit vorhanden, über eine Neuorganisation des Staates und des öffentlichen Lebens nachzudenken. Im Augenblick können wir darüber kaum im realen “Modus” diskutieren, zumindest nicht für die nahe Zukunft. Vielleicht irgendwann später, vielleicht Jahre später, weil die Gesellschaft jetzt nicht genug Kraft besitzt, um diese Macht zu durchbrechen, der wir widerstehen. Niemand konnte sich vorstellen, dass es nicht nur zu einem Gesetzesbruch kommt, sondern zu dieser absoluten Gesetzlosigkeit, wenn man alles tun kann, wenn man töten und sagen kann “er ist hingefallen”. Niemand konnte sich vorstellen, dass dabei alle staatlichen Institute – Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht, Medienmaschine, Armee, Parlament, Bildungssystem, Sport und alles andere, was vom Staat kontrolliert wird – nicht nur nichts dagegen unternehmen werden und nichts ermitteln, sondern mit vollem Einsatz dafür “arbeiten” werden. Wer hätte gedacht, dass es möglich ist, nicht nur einen Politiker ins Gefängnis zu stecken, sondern auch seinen Anwalt und dann den Anwalt des Anwaltes.
Ich überlege mir auch, wer jetzt was “weiß”. Wir glauben, jeder sitzt im Internet und jeder weiß, was passiert, aber wir sind diejenigen, die im Internet sitzen. Und es gibt einen anderen Teil der Bevölkerung, der die Welt aus einem anderen Fenster betrachtet. Und das Bild, das die Macht in diesem Fenster erzeugt – es wird zur “Wahrheit”. Ich meine in diesem Fall Fakten, reale Ereignisse, nicht irgendwelche höheren Wahrheiten. Es scheint uns, dass dies und das passiert ist, und jeder weiß davon. Aber es stellt sich heraus, dass das, was in diesem Fenster gezeigt wird, zur “Wahrheit” wird. Was soll man in dieser Situation tun? Was kann dagegen unternommen werden?