Wie eine Skulptur

Zwei Fragen an Isabelle Schad zur neuen Arbeit “The Shift of Focus”

Nach einer Trilogie zu kollektiven Körpern, die du zwischen 2014 und 2019 entwickelt hast, folgt nun “The Shift of Focus” als dein neues Gruppenstück. In den letzten vier Jahren wurde der Gesellschaftskörper von Kriegen, Pandemien und Umweltkatastrophen getroffen. Was hat dich dazu bewogen, in dieser Zeit mit der Arbeit an einem neuen Gruppenstück zu beginnen?

Eigentlich beginne ich die Arbeit an einem neuen Stück mit meiner Praxis, einer Praxis des Zen im weitesten Sinne, was eine Bewegungspraxis und eine Praxis des Zusammenseins mit einschließt. Aber was bedeutet eine Zen-Praxis, eine Praxis der Erkenntnis, in einer Welt, die von Krisen geschüttelt ist? Die Frage “Wo beginnt Heilung?” stellt sich immer wieder: Welche Bedeutung hat unsere Arbeit auf einer höheren Ebene? In meinem bzw. unserem Fall ändern wir mit dem, was wir tun, vielleicht nicht die Welt von Grund auf, aber es scheint dennoch Sinn zu machen, danach zu fragen, wo Bewusstsein beginnt.

Wir kommen also täglich zusammen, um unseren Bezug zum Selbst zu untersuchen, und um Schritte in uns Selbst zu gehen. Wir schauen zuerst auf innere Schritte, um von dort aus Voraussetzungen für Antworten in größerem Ausmaß zu finden. Als ersten Schritt üben wir wirklich da zu sein, wo ein jede*r von uns ist. Und dort gibt es auch immer etwas, was da ist, um uns zu reflektieren. Einen Spiegel – der manches Mal auch unendlich weit reflektieren kann. Wenn wir dann auf die Zen-Praxis schauen – statt auf Formen oder auf Techniken ­– dann bedeutet das, den Weg zu erforschen, uns(er) Selbst zu erforschen. Unsere Wahrnehmung der Welt ist subjektiv. Das bedeutet nicht, dass die Realität nicht existiert, sondern dass wir unsere eigene Wahrnehmung von ihr haben.

Wenn wir solche Fragen mit in die Kreation einer neuen Arbeit nehmen, bedeutet das, dass wir uns eine große Offenheit abverlangen in Bezug darauf, was geschehen kann. Wenn sich bei jedem Schritt, in jedem Moment, die Dinge, die wir tun und spüren verändern können, dann kann die Arbeit, die wir machen, ein rutschiger Untergrund aus Transformationen und Wahrnehmungen werden. Und das benötigt die hundertprozentige Präsenz jedes*r Einzelnen in jedem Moment. Dieser rutschige Untergrund braucht eine Verankerung in etwas Solidem. In unserem Fall ist es der Score, die Choreografie, die mit ihren drei Teilen “Die Erschaffung der Welt”, “Ich habe einen Traum (über die Unendlichkeit)” und “Kräfteverhältnisse (zwischen Zerstörung und Heilung)” – im weitesten Sinne – als eine Antwort auf die Welt gesehen werden kann. Auf eine sehr offene, vielleicht träumerische, poetische, fantastische oder abstrakte Art und Weise. Aber sie kann auch ‚nur‘ als ein Anlass gesehen werden, vollkommen da zu sein, wo wir sind. Dann ist der Score ein Pfad, auf dem wir praktizieren können, vollständig anwesend zu sein, endlos reflektiert, wie durch einen Spiegel, von allen anderen, die da sind. Und unsere Realitäten ändern sich Moment für Moment, Atemzug für Atemzug, Schicht für Schicht, Motiv für Motiv, Bewegung für Bewegung.
 

“The Shift of Focus” ist Teil eines langfristigen Projekts von dir, das darauf abzielt, drei verschiedene Formate zu schaffen, die den drei klassischen Genres der Bildenden Kunst entsprechen: Stillleben, Landschaft und Porträt. Diese Arbeit ist vom Genre der Landschaft inspiriert. Was steckt hinter dieser Idee der Übertragung?

Ich sehe meine Arbeit auch als eine Schnittstelle zwischen Choreografie und Bildender Kunst, wo Bewegung – mit ihren kohärenten Wahrnehmungen und Transformationen – beinahe wie eine Skulptur geformt und bearbeitet wird. Wenn ich mit einer Person an einem Solo arbeite, dann korrespondiert das mit dem Genre der Porträtmalerei. Mit einer Gruppe zu arbeiten korrespondiert mit der Landschaftsmalerei. In diesem Stück wird alles wie eine Skulptur gearbeitet. Alles, was Teil der Landschaft ist – der Boden mit seinen Tatamis, die fliegenden Paneele als Verlängerung des Bodens in den Himmel, dann die physische Arbeit innerhalb und zwischen den Performenden, ihre Stimme/Atmung und ihr Klang, Licht und Farbe die projiziert wird. Die Schwierigkeit ist natürlich, wie all diese Elemente zu einem Ganzen werden. Wie und was sie zu der einen Skulptur, Landschaft und “fantastischen” Reise beitragen, auf die wir das Publikum schicken. Hinzu kommt, dass der Bühnenapparat wieder eine relevante Rolle spielt, ebenso wie in “Reflection”, meinem ersten Auftragswerk für das HAU1. Damals schon sah ich keinen anderen Weg, als mit dem Bühnenapparat zu arbeiten, da das HAU1 kein neutrales Blackboxtheater ist. Es ist vielmehr ein Charakter und symbolisiert für mich die Macht, der wir in dieser Welt ausgesetzt sind: sei es die Macht der Natur – unser Planet, der mehr und mehr zerstört wird und reagiert –, die Macht das Krieges, einer Waffe, oder die Macht in unserer Gesellschaft, bis hin zur Macht der Bürokratie, die uns klein hält.

Anders als bei “Reflection” ist es nun aber die vertikale Achse, die mit den Performenden interagiert: über Züge, die ziehen oder gezogen werden; Paneele fliegen nach oben bis außerhalb unseres Sichtfeldes oder kommen aus der Tiefe, fast als könnten wir die großen Ideen von Himmel und Hölle wiederbeleben; fast als könnten wir Bezüge zu den zehntausend archetypischen Figuren und Geschichten, die wieder und wieder erzählt wurden, herstellen, fast als würde das Kleistsche Marionettentheater wieder lebendig werden. Die vertikale Ausrichtung kann gewissermaßen als Antwort auf die Schwerkraft und aufs Leben verstanden werden. Unser Aikido-Meister Gerhard Walter sagte einmal am Ende einer Trainingseinheit: “Ist es nicht fantastisch, dass Leichtigkeit die Antwort auf die Schwerkraft und auf das Leben ist!” Das war eine so einfache Schlussfolgerung am Ende einer sehr komplexen Klasse. Ich fand das wirklich erhellend.

Die Fragen stammen aus einem Interview, das in der Broschüre “The Shift Of Focus” veröffentlicht wurde und von Tanzdramaturgin Elena Basteri geführt wurde.