Während wir dabei sind, Technologien zu entwickeln, die es mit der menschlichen Intelligenz aufnehmen können, untersucht James Bridle unsere Beziehung zu anderen Formen von Intelligenz auf unserem Planeten.
Am 27. Juni 1835 standen sich zwei Meister des alten chinesischen Spiels Go in einem Turnier gegenüber, das den Höhepunkt eines jahrelangen Wettkampfs markierte. Das Wunderkind Akaboshi Intetsu dominierte das Spiel zunächst, indem er sich eines geheimen Spielzugs bediente, den sein Lehrer entwickelt hatte. Nach dem ersten Spieltag erschienen seinem Kontrahenten Hon’inbō Jōwa jedoch eine Reihe von Geistern: Sie zeigten ihm drei entscheidende Spielzüge, mithilfe derer es ihm gelang, das Spiel wieder unter Kontrolle zu bekommen. In dem Moment, als klar wurde, dass Akaboshi es nicht schaffen würde, das Spiel für sich zu entscheiden, hustete der junge Herausforderer so heftig, dass Blut auf dem Spielbrett landete. Ein paar Tage später wurde er tot aufgefunden. Das Spiel zwischen Akaboshi und Jōwa ging als das “blutspuckende Spiel” in die Geschichte des Go ein. Historiker*innen schrieben Akaboshis Niedergang einer nicht diagnostizierten Lungenkrankheit zu. Was die Geister angeht, die das Spiel womöglich bis zum heutigen Tage heimsuchen, sind ihre Aussagen weniger eindeutig.
Am 29. Dezember 2016 tauchte ein neuer Spieler auf Tygem auf, einem beliebten Online-Go-Server, auf dem viele etablierte Go-Profis neue Spielzüge ausprobieren und trainieren. Der Spieler nannte sich Master und setzte sofort zu einem vernichtenden Siegeszug an: In nur sieben Tagen gewann er 60 Mal, ohne sich zwischen den Spielen je lange auszuruhen. Dabei gewann er auch gegen die besten Spieler*innen der Welt. Seine Spielzüge erschienen recht wild oder sogar unüberlegt, und doch führten sie immer zum Sieg. Nach dem 59. Spiel kam heraus, dass es sich bei Master – wie schon von vielen vermutet – nicht um einen menschlichen Spieler handelte, sondern um eine Künstliche Intelligenz (KI). Master war die neueste Entwicklung des AlphaGo-Programms von DeepMind und Google, das bereits sechs Monate zuvor Aufmerksamkeit erregt hatte, als es den Go-Champion Lee Sedol besiegt hatte.
Das Spiel war damals knapp ausgegangen, die Spiele im neuen Jahr sahen jedoch schon ganz anders aus. Go-Spieler*innen hatten Mühe, den Stil der Künstlichen Intelligenz zu beschreiben. Es gelang ihnen nur schwer, sie einzuordnen. Einer der führenden Go-Spieler sagte: “Sie verhält sich so, wie ich mir Spiele in ferner Zukunft vorstelle.” Ein anderer berichtete, dass es sich für ihn angefühlt hätte, als wäre eine “außerirdische Intelligenz” unter ihnen gelandet. Selbst Demis Hassabis, der Entwickler der Maschine, sagte, dass die Spielzüge “einer anderen Dimension” zu entstammen schienen.
Systeme wie AlphaGo als Künstliche Intelligenz zu bezeichnen grenzt in gewisser Weise an Übertreibung. Sie sind vielmehr eine sehr beschränkte Form von Intelligenz, die einer bestimmten Aufgabe zugeordnet ist und auf einer bestimmten rechnerischen Konfiguration basiert – also einem neuronalen Netz – und einer Technik, die als Reinforcement Learning (verstärkendes Lernen) bezeichnet wird. Hierbei handelt es sich um Software, die bestimmten Teilen des menschlichen Gehirns lose nachempfunden sind und die mithilfe eines Belohnungssystems trainiert werden, das sie darin fördert, eigene Strategien zu entwickeln. Trotz ihres sehr begrenzten Fokus lässt sich ihr Nutzen verallgemeinern; die für AlphaGo entwickelten Technologien können nicht nur Spiele erlernen, sondern wurden von Google auch in andere Bereiche übertragen, um z.B. medizinische Diagnosen zu stellen oder YouTube-Empfehlungen zu generieren.