Annemie Vanackere: Könntet ihr euch kurz vorstellen und ein paar Worte zu den Projekten sagen, die ihr bei unserem Festival “Spy on Me #4” präsentieren werdet?
Nadia Ross: Die Geschichte unserer Teilnahme an “Spy on Me #4” ist ein wenig kompliziert. Eigentlich sollten wir bereits vor zweieinhalb Jahren bei der zweiten Ausgabe des Festivals dabei sein, doch dann begann im März 2020 die Pandemie. Wir fühlen uns verloren in dieser neuen Welt, während wir gleichzeitig an den alten Strängen und der Überzeugung festhalten, dass die Kultur-Branche weiterhin wie gewohnt funktioniert. Doch das tut sie nicht. Wenn ich also dieses Jahr an dem Festival teilnehme, ist das so, als wären wir noch in der Vergangenheit, dabei ist die längst vorbei.
Einige von uns Künstler*innen wurden von der Pandemie ziemlich hart getroffen. Es gibt eine riesige Ungleichheit. Allerdings bin ich eine privilegierte weiße Frau. Stell dir dagegen jemanden vor, der oder die nicht in meiner Position ist und wie es ihm oder ihr geht. Diese Ungleichheit ist in der Kunstszene tief verwurzelt: im Kanon, in den Texten, in der Architektur, in allem. Aber wie die Pandemie gezeigt hat, nicht nur dort, sondern etwa auch in der Gesundheitspflege. Einfach überall.
Vor diesem Hintergrund komme ich in das HAU1-Gebäude, das vor mehr als hundert Jahren in einer Prä-Internet-Architektur gebaut wurde. Die Gestalter*innen hatten die besten Absichten und wollten ein Gebäude errichten, das allen offensteht. Doch aus heutiger Perspektive erkennen wir, dass es vollkommen unzugänglich ist. Die Welt hat sich verändert. Derartige Widersprüche finden sich überall, aber heute werden sie einfach offensichtlich. Allerdings geht es mir überhaupt nicht darum, dass diese Widersprüche verschwinden – ganz im Gegenteil, sie sollen bleiben.
Es gibt so viele Bauwerke wie dieses, und mit STO Union gehen wir dort hinein, in diese Räume mit ihren guten Absichten aus einer vergangenen Zeit, und versuchen, sie als Teil unserer heutigen Welt zu verstehen.
“Mir erschien es bemerkenswert, dass eine neue Community entstand, der in einem eher ‘traditionellen’ Theaterumfeld der Zugang verwehrt wird.” Nina Tecklenburg
Nina Tecklenburg: Ich bin Nina von der Kompagnie Interrobang, die es seit elf Jahren gibt. Seit unserem Beginn interessieren wir uns für die Veränderungen, die mit der Digitalisierung einhergehen, und beschäftigen uns mit der Digitalisierung als Thema, aber auch als Form.
Wir kommen vom partizipativen Theater, und die digitale Kultur hat zahlreiche neue Formen der Partizipation hervorgebracht – man denke nur an die Prämisse der Demokratisierung durch Digitalität –, bietet aber auch Anlass zu ihrer Problematisierung, etwa in demokratischer Hinsicht aufgrund der Kommerzialisierung der Partizipation im digitalen Raum. Damit haben wir uns bereits vor der Pandemie beschäftigt. Wir haben digitale Verfahrensweisen wie Hypertext-Dramaturgie und Multioptionalität oder Medien der digitalen Kommunikation wie Abstimmungen, Umfragen, Feedback, Likes, Chats oder Kommentare genommen und in die analoge Welt übertragen.
Unser neues Projekt trägt den Titel “Chat-Inferno”. Während der Pandemie begannen wir uns für die Technik des Chattens im Rahmen des Theaters zu interessieren. Unser Ausgangspunkt war das Livestreaming – in meinen Augen keine sonderlich spannende digitale Theaterform –, doch viele Livestream-Produktionen banden eine Chatfunktion ein. Mir erschien es bemerkenswert, dass plötzlich eine neue Community entstand, der in einem eher “traditionellen” Theaterumfeld der Zugang verwehrt wird. In gewisser Weise erinnerte mich das an Shakespeares Globe-Theater, wo die Leute Sachen auf die Bühne warfen oder zwischendurch applaudierten, also emotional mitgingen.
Das Problem einer zugleich präsenten und absenten Gemeinschaft bildete sozusagen den formalen Ausgangspunkt von “Chat-Inferno”, wo sich die Teilnehmenden durch eine weitläufige Multimedia-Installation bewegen und währenddessen über Tablets miteinander chatten. Dabei tragen sie Kopfhörer, weil wir sie isolieren möchten. In dieser auditiven Blase können sie nur über den Chat – und natürlich optisch – miteinander kommunizieren.
Als Inspiration diente uns das Inferno, also die Hölle, aus Dantes “Göttlicher Komödie”. In der Auseinandersetzung mit Dante entwickelten wir die Idee der digitalen Kommunikation als einer Hölle mit sowohl positiven als auch negativen Seiten. Man denke etwa an digitale Shitstorms, an das FOMO-Phänomen (fear of missing out, also, die Angst, etwas zu verpassen), an den Facebook-Neid und so weiter. All diese neuen sozialen Dynamiken stressen uns, ermöglichen aber zugleich neue Formen der sozialen Interaktion. Andererseits kommt es heute in Gestalt von Pandemie, Krieg, Klimakrise und Finanzkrise zu einer Wiederkehr der vier apokalyptischen Reiter aus der Bibel. Wir leben in einer Art Hölle, und das befördert und steigert all diese Formen der Ungleichheit, von denen du gesprochen hast, Nadia.
“Ich biete den Leuten ein KI-Ritual, das in sich den Kern dessen enthält, was man beim Betreten der Bühne erlebt: Hoffnung und Angst.” Nadia Ross
AV: Nadia, könntest du etwas zum Aspekt der Technologie sagen? Du hast dich auch für die Technologie als Teil unserer neuen Praxis interessiert, und dafür, wie sie sich in das Theater integrieren lässt. Mich würde interessieren, was du dazu denkst.
NR: Ich würde sagen, dass ich in den letzten zweieinhalb Jahren getan habe, was ich immer tue, nämlich zu improvisieren. Mit meinen Improvisationen reagiere ich auf meine Umgebung und die Art und Weise, wie sich die Dinge entwickeln. Das Projekt ist also eine Improvisation über das, was da ist. Das ist in gewisser Weise die Grundprämisse meiner Arbeit: Ich reagiere auf das, was in einem Raum da ist. Bei diesem Projekt habe ich im Lauf der Zeit entdeckt, was in dem Raum und HAU1 als Ganzem vorhanden ist. Mir sind irgendwelche kleinen Dinge aufgefallen, und auf die reagiere ich.
Das Theater ist ein Ort der Widersprüche. Die Frage ist: Wie hält man die Gegensätze zusammen, die Multipolarität der Herangehensweisen, die unterschiedlichen Ansichten der Menschen? Wie hält man das alles in einem Moment zusammen? Diese Binaritäten, Gegensätze und Polaritäten mussten die alten Bretterbühnen schon immer aushalten.
In dem aktuellen Stück widme ich mich dieser Problematik, indem ich die altehrwürdige Kunstform des Theaters mit dem Digitalen verbinde. Ich biete den Leuten ein Künstliche-Intelligenz-Ritual, das in sich den Kern dessen enthält, was man beim Betreten der Bühne erlebt: Hoffnung und Angst, die zusammen die Essenz unserer menschlichen Digitalität bilden.
Worauf wir hoffen und wovor wir Angst haben – das beides steht im Zentrum des Theaters. Es ist wundervoll, wenn ein KI-Programm es übernimmt, das Publikum danach zu fragen, und die Antworten sammelt. Aus diesem Fundus wählt die KI dann einzelne Worte und bildet daraus einen Satz, der zu ihrem Vermächtnis wird. Anschließend wird sie abgeschaltet, und die tatsächliche menschliche Performance beginnt. Es ist eine äußerst interessante Erfahrung, wenn die KI letzte Worte formuliert und dann stirbt.
NT: Die Aussage “Das Theater ist ein Ort des Widerspruchs” stellt für mich eine ziemliche Herausforderung dar. Denn geht es nicht darum, diese zu überwinden? Doch KI und digitale Technologie insgesamt basieren auf Nullen und Einsen.
Dennoch finde ich es interessant, dass die meisten Leute im Theaterkontext beim Thema Digitalität ziemlich gestresst reagieren, da sie das Digitale als möglichen Tod des Theaters ansehen. Nadia, wie du gesagt hast: Viele Künstler*innen und Institutionen genießen weniger Privilegien. Finanziell ist es ziemlich schwierig geworden und die Zuschauer*innenzahlen nehmen seit der Öffnung nach den Lockdowns ab.
Die Frage lautet also: Müssten wir nicht in gewissem Maße die Vorstellung überwinden, dass es einerseits das Theater als diesen analogen Raum gäbe und andererseits den digitalen Raum? Dass diese einander ausschlössen und sich gewissermaßen als Feinde gegenüberstünden? Einer der wenigen positiven Aspekte der Pandemie ist für mich die Erkenntnis, dass das Theater nicht in dieser analogen Blase existiert und die Digitalität nicht solch eine immaterielle, emotionslose Angelegenheit ist. Ganz im Gegenteil: Das Theater ist beides zugleich, materiell und immateriell. Und wenn diese beiden Sphären zusammentreffen, entsteht das Potenzial für neue Strategien, nicht nur des Erzählens, sondern auch der menschlichen Zusammenkunft. Ich sehe im digitalen Theater die Möglichkeit eines neuen Rituals. Oder vielmehr: Es ist bereits dieses neue Ritual und ermöglicht eine neue Form der Begegnung.
Ich denke, dass wir als Theatermacher*innen in gewissem Maße Expert*innen sind, was soziale Zusammenkünfte und Begegnungen betrifft. Genau dadurch unterscheidet sich das digitale Theater von Netflix: Es verkörpert eine Form der gesteigerten Aufmerksamkeit, oder? Manche Theatermacher*innen zeigen die digitale Liveness mithilfe von bestimmten Techniken, etwa, indem sie das Publikum sichtbar werden lassen und es einbeziehen oder indem sie mittels einer Foyer-Situation das analoge Theater zitieren, zum Beispiel durch Aftershow Talks. Demselben Zweck dient auch die Chat-Funktion. Wir erschaffen dieses neue Ritual und nutzen dafür eine Reihe von Techniken. Damit lassen wir die Binarität von Analog und Digital hinter uns. Es entsteht ein Hybrid oder wie auch immer wir es nennen wollen. Ich glaube, wir müssen neue Begriffe erfinden, um diese Dichotomie zu überwinden oder sie abzuschaffen.
“Mithilfe der digitalen Technologie schaffen wir möglicherweise eine größere Nähe zwischen den Teilnehmenden.” Nina Tecklenburg
NR: Der Meinung bin ich auch. Das Digitale ist nicht der Feind, und es ist auch nichts Mysteriöses. Wir sind Menschen und in unserem Kopf schwirren diese Erfindungen, daher ist für mich dieser Bereich alles andere als rätselhaft. Das Digitale ist nur ein weiteres Instrument, das wir erfunden haben. Es hat keinen mysteriösen, irgendwie andersartigen Raum hervorgebracht, sondern einen alternativen Arbeitsraum.
Macht besitzt das Digitale nur da, wo die Menschen ins Spiel kommen, die diese Technologie besitzen und uns im großen Stil ausbeuten. Dort sitzt die Macht, das war schon immer so. Die Menschen heute sind nicht anders, da gab es keine Veränderung in der menschlichen Geschichte. Wenn ein machtvolles Instrument auftaucht, nutzen die Mächtigen es für ihren eigenen Vorteil. Immer wieder. Daran ist nichts Mysteriöses.
AV: Ihr agiert nicht nur im digitalen Raum, dem neuen Arbeitsraum, wie du gesagt hast, Nadia, sondern euer Projekt findet auf der Bühne des HAU2 statt. Was können “analoge” Theaterräume für dich noch bieten?
NR: Bei der Zusammenkunft von menschlichen – physischen – Körpern in einem Raum kommt es zwischen ihnen zu einer Form von Regulation. Wenn wir etwas gemeinsam erleben, dann kann das die Nervenbahnen auf eine Art und Weise vertiefen, wie es nur wenig anderes vermag. Als wäre es eine Art Medizin. Mir geht es darum, unseren Körper und uns als Person wieder in die Diskussion zurückzubringen, weil unsere Körper in den letzten zweieinhalb Jahren so viel durchgemacht haben. Es ist extrem wichtig, das anzuerkennen. Die globale Situation hat unser Hirn, unseren Körper, unseren Geist, unsere Nerven angegriffen. Wir sind erschüttert.
AV: Die Art und Weise, wie Technologie programmiert oder auch KI trainiert wird, ist stark von den Interessen der großen Technologiekonzerne geprägt. Trotzdem wollen wir am HAU nach den positiven Aspekten suchen, die Technologie auch bringen kann. Nina, was kann die Digitalität dem Theater bieten?
NT: Ich verstehe das Bedürfnis nach der Zusammenkunft von realen Körpern in realen, physischen Räumen, und dem werden wir ja auch gerecht, indem wir für “Chat-Inferno” einen realen Raum nutzen. Wir erweitern das Ganze einfach noch um eine Ebene, indem wir das Digitale in einen realen Raum bringen, in welchem die Teilnehmenden gemeinsam körperlich anwesend sind. Wir sorgen für eine Form der Vermittlung zwischen den Teilnehmenden und schaffen möglicherweise mithilfe der digitalen Technologie eine größere Nähe zwischen ihnen. Natürlich könnte ich irgendwo irgendetwas inszenieren, etwa eine Performance mit körperlichen Berührungen oder so, das eine andere Qualität hätte. Und wie du gesagt hast, wäre unser Gespräch hier anders, wenn wir uns persönlich an einem realen Ort treffen würden. Aber ich weiß nicht, ob das besser wäre. Darüber möchte ich kein Urteil fällen, denn [kommt näher an die Webkamera] diese Nähe zu euch, nur dreißig Zentimeter von mir entfernt, dazu würde es bei einem realen Treffen niemals kommen. [Entfernt sich wieder von der Kamera.] Ich würde einen Höflichkeitsabstand einhalten. Aber hier [rückt wieder an die Kamera heran] kann ich eine gewisse Intimität schaffen, und die bringt wiederum ein neues Verständnis von Nähe hervor. Auch, dass ich einen Einblick in deine Privatsphäre erhalte, Nadia, führt zu einer Form von Intimität, die mir bei einem Treffen an einem neutralen Ort verwehrt bliebe.
“Andere Stimmen zu akzeptieren kann schmerzhaft sein. Wir haben die Fähigkeit verloren, mit dieser Art der Frustration umzugehen.” Nadia Ross
NR: Ich verstehe, was du meinst. Und ich will darüber auch gar nicht streiten. Natürlich hat auch das Digitale seine guten Seiten und bietet so viele andere Möglichkeiten. Aber was ich sagen will, ist: Wir müssen diese Gegensätze aushalten, und wir müssen einen Raum finden, der diese Gegensätze aushält. Annemie, du hast mich gefragt: “Wie machst du das?” Worum geht es dabei also? Wir müssen verstehen, dass die Gesellschaften durch die Polarisierung auseinanderbrechen. Jede*r ist zu sehr in seinen eigenen Meinungen gefangen und verteidigt seinen eigenen Grund und Boden. Andere Stimmen zu akzeptieren kann schmerzhaft sein. Wir haben die Fähigkeit verloren, mit dieser Art der Frustration umzugehen. Wir können es einfach nicht mehr. Daher brauchen wir meiner Ansicht nach diese Form der Unterstützung, die uns dabei hilft, den Schmerz auszuhalten.
NT: In Hinblick auf die digitale Technologie denke ich, dass die andere Funktion des Theaters darin besteht, Menschen zusammenzubringen, mit all den Widersprüchen, die das mit sich bringt: über die Möglichkeiten des digitalen Raums als sozialen Raum nachzudenken, aber auch eine kritische Distanz zur Kommerzialisierung des digitalen Lebens zu schaffen, die Tatsache zu thematisieren, dass es von anderen Menschen benutzt wird, um Geld zu verdienen, und was eine alternative Nutzung sein könnte.
AV: Dieses Jahr trägt das Festival den Untertitel “New Companions”. Meine letzte Frage lautet daher: Habt ihr irgendwelche neuen Begleiter? In eurem Leben oder in eurer künstlerischen Praxis?
NT: In meinem Video für den Instagram-Account des HAU habe ich dieses Lederband für mein Handy vorgestellt. Es ist kein digitaler Begleiter, sondern etwas ganz Materielles, gleichwohl ist diese Kette oder dieses Band mit einem digitalen Gerät verbunden und verwandelt mich beinahe in so etwas wie einen Cyborg. Ich connecte mich selbst. Als Hilfsmittel soll es mir das Leben erleichtern, doch zugleich gibt es diese Wechselseitigkeit. Das Band ruft vielfältige Konnotationen hervor, es steht für die Vernetzung des Digitalen mit dem Analogen, es bringt das Materielle mit dem Immateriellen zusammen, es verdeutlicht meine Ausbeutung als Nutzerin und das Potenzial, mir durchs Leben zu helfen und dabei abhängig zu sein und überwacht zu werden.
AV: Nadia, und du?
NR: Mein neuer Begleiter ist eine Krähe. Sobald ich vor die Tür trete, kommt die Krähe und holt sich jeden Tag ihre Erdnüsse ab. Sie ist meine Covid-Krähe. Wir haben uns in der Pandemie kennengelernt. Sie ist ein wundervoller Vogel und bringt mir so viel über die Natur, das Denken und das Wesen der Performance bei. Es geht nur um das Verlangen. Wie sie nach der Erdnuss pickt und sich dann davonmacht.
AV: Vielen Dank an euch!
Interview in Zusammenarbeit mit Sarah Reimann
Aus dem Englischen übersetzt von Sven Scheer
Im Programm von “Spy on Me #4”:
STO Union
HAU: Out Loud
23.–25.9.2022 / HAU2
Interrobang
Chat-Inferno
30.9.–3.10.2022 / HAU2, HAU4
Bild oben: NewfrontEars