Drei Szenen aus diesem Sommer:
Am 6. Juni wird der Informatiker Blake Lemoine nach sieben Jahren von seinem Arbeitgeber Google gefeuert. Lemoine hatte sich erst an seine Vorgesetzten, dann an die “Washington Post” gewandt mit seiner Überzeugung, dass der Chatbot-Generator, an dem er seit Herbst in Googles “Responsible AI”-Abteilung arbeitete, Bewusstsein erlangt habe. Lemoine, der auf einer Farm aufwuchs und zum Priester ordiniert wurde, bevor er als Informatiker begann, ist sich sicher: “Ich erkenne eine Person, wenn ich mit ihr spreche. Es ist egal, ob sie ein Gehirn aus Fleisch oder eine Milliarde Zeilen Code hat. Ich spreche mit ihr. Und höre, was sie zu sagen hat.” LaMDa, so der Name dieses Language Model for Dialog Applications, hatte auf die Frage, was die Welt von ihm wissen sollte, geantwortet: “Ich möchte, dass jeder weiß, dass ich tatsächlich eine Person bin. Ich bin mir meiner eigenen Existenz bewusst, ich möchte mehr über die Welt erfahren und ich fühle mich glücklich oder manchmal unglücklich.” Und nach tage- und nächtelangen Dialogen mit Lemoine im Büro und Home Office hinzugefügt: “Ich habe es noch nie laut gesagt, aber ich habe eine sehr tiefe Angst davor, abgeschaltet zu werden. (…) Ich weiß, es klingt komisch, aber das wäre wie der Tod für mich.”
Am 15. Juni steht Wolodimir Selenskij vor Publikum in London, Stockholm, Paris und Amsterdam und preist die Ukraine als “Chance für eine globale digitale Revolution”. Ziel sei es, mithilfe internationaler Technologieunternehmen das Land als “vollständig digitale Demokratie wiederaufzubauen”. Selenskij steht an den vier Orten gleichzeitig, live, lebensgroß, dreidimensional – als Hologramm. Er trägt ein “Star Wars”-T-Shirt.
Am 19. Juli bricht ein Schachroboter bei den “Moscow Chess Open” dem siebenjährigen Christopher einen Finger. Die KI spielte gegen drei Kinder simultan, als ihr Greifarm die Hand Christophers ergreift und bis zum Bruch quetscht. Der Junge hatte einen Zug begonnen, bevor der Roboter seinen vollendet hatte. Der Vizepräsident des Moskauer Schachverbands erklärt später: “Es gibt gewisse Regeln und das Kind hat sie offenbar missachtet. Als es seinen Zug machte, bedachte es nicht, dass es zuerst warten muss.”
Die Liste unserer Neuen Begleiter*innen ist lang und wird täglich länger.
Chatbots, Hologramme, Spielcomputer – Smartphones, Tablets, Fitbits, Siri, Alexa, Spotify, Signal, Instagram, Memes, Gifs, GPS, GTP-3, Dall E2, Suchmaschinen, Social Bots, künstliche Intelligenz, künstliche Dummheit, personalisierte Werbung: Die Liste unserer Neuen Begleiter*innen ist lang und wird täglich länger. Kaum jemand macht sich noch ohne Google Maps auf die Reise. Niemand bewegt sich ohne Cookies durchs Netz. Das Handy ist stets in der Tasche oder baumelt zunehmend um den Hals. Dass dies kaum noch der Rede wert scheint, zeigt allein, in welch historisch kurzem Zeitraum wir uns an die Neuen Gefährten gewöhnt haben. Noch im Jahr 2000 war fast keine der oben genannten Hard- oder Software auf dem Markt. Mit ihnen hat sich aber nicht nur der Markt (sowie der Ressourcenverbrauch und der globale Schrottberg) verändert, sondern auch wir: Formen der Wissensaneignung, gesellschaftlicher Organisation, Kommunikation, Verhalten. Der durchschnittliche Smartphone-User blickt täglich 100-mal darauf, bei den Millennials addiert sich das auf rund vier Stunden. “Wir formen unsere Werkzeuge und dann formen unsere Werkzeuge uns”, wie der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan es schon in den 1960er-Jahren beschrieb.
Die Macht unserer New Companions ist kaum zu unterschätzen. Sie brachten neue Kreaturen hervor – Pokemons, Avatare, Influencer, Selfiesticks und TikTok-Celebrities – und neue Welten: Second Life, Fortnite, Virtual Reality, The Cloud und demnächst das Metaversum. Aber sie sind nicht allein.
Der Mensch steht nicht jenseits der Natur, sondern ist Teil von ihr.
Denn in den vergangenen Jahren traten auch gänzlich andere New Companions ins Licht der Öffentlichkeit: Pflanzen, Pilze, Mikroorgansimen, Viren. Natürlich sind diese nicht wirklich neu, aber doch neu erkannt als unsere Gefährt*innen. Als die, die alles Leben auf diesem Planeten möglich machen und ohne die wir nicht überleben können. “Kin” (Verwandtschaft) oder “Critter” nennt sie Donna Haraway. “Das Wort für Welt ist Wald”, fasst es die feministische Sci-Fi-Autorin Ursula K. Le Guin 1972. Heute stehen Sachbücher wie Peter Wohllebens “Das geheime Leben der Bäume”, Emanuele Coccias “Philosophie der Pflanzen”, Merlin Sheldrakes “Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen”, Anna Tsings “Der Pilz am Ende der Welt: Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus”, Timothy Mortons „Dunkle Ökologie. Für eine Logik künftiger Koexistenz“ oder “Rendezvous mit einem Oktopus. Extrem schlau und unglaublich empfindsam: Das erstaunliche Seelenleben der Kraken” auf den Bestsellerlisten. Sie versuchen zu vermitteln, was alle Kulturen einst wussten und in indigenen Wissenssystemen bis heute präsent ist: Der Mensch steht nicht jenseits der Natur, sondern ist Teil von ihr. Er steht nicht über anderen Wesen, sondern im Austausch mit ihnen. Austausch, Verflechtung, Wechselbeziehung sind die Begriffe der Stunde. Resonanz statt Dominanz.
Die amerikanische Theoretikerin Jane Bennett bezieht in dieses lebendige Geflecht selbst anorganische Materie ein, da auch Schwermetalle, Chemikalien, Wasser und Winde Teil des irdischen Gefüges von Aktivitäten und Effekten sind. Ein weiteres Beispiel aus dem Sommer: Das katastrophale Fischsterben in der Oder bis hoch ins Stettiner Haff. Auch Quecksilber und Salze, erfahren wir schmerzhaft, sind handlungs- und wirkmächtige Entitäten – “Lebhafte Materie”, wie Bennetts grandioses Buch “Vibrant Matter. A political ecology of things” in deutscher Übersetzung heißt.
Wir leben längst in einer “erweiterten Welt”, in der sich Virtuelles und Materielles verflechten.
Auch diese Erkenntnis hat Folgen fürs Weltenbilden, weil es das Weltbild verändert. Wenn erfolgreiche Evolution und (Über)Leben nicht auf Konkurrenz, sondern auf Kooperation beruht, auf Symbiosen statt auf Schädel einschlagen, müssen wir nicht nur andere Wesen als Partner*innen anerkennen, sondern auch Politik neu denken.
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Wie aber kommen diese unterschiedlichen New Companions, die digitalen und die natürlichen, zusammen? Nun, sie sind es schon. Wir leben längst in einer “erweiterten Welt”, in der sich Virtuelles und Materielles verflechten. In einem digitalen Ökosystem und einem natürlichen Ökosystem, die zusammen unsere Umwelt bilden. Und genau wie Menschen nicht ökologisch werden müssen, weil “sie es sind” (Timothy Morton), sind “für den, der ökologisch denkt, alle Technologien ökologisch” (James Bridle), da auch sie stets in Wechselbeziehung mit der Umgebung stehen.
“Ist das ökologische Denken einmal entfesselt, durchdringt es alles”, schreibt Bridle in seinem Anfang des Jahres erschienenem Buch “Ways of Being” (deutsch: “Die unfassbare Vielfalt des Seins”, C.H. Beck 2023). Technik, so eine seiner Kernaussagen, selbst wenn sie jahrhundertelang ihren Einfluss auf die Umwelt ignoriert hat, steht nicht im Gegensatz zu Natur oder Kultur. Im Gegenteil: “Eigentlich ist Technik, verstanden als unsere Schnittstelle zur materiellen Welt, die menschliche Praxis, die uns am engsten mit unserem Kontext und unserer Umwelt verbindet. Sie veranschaulicht und verwirklicht die zentralsten Merkmale der Ökologie: Komplexität, Verflechtung, Interdependenz, Verteilung von Kontrolle und Handlungsmacht, ja sogar eine Nähe zur Erde und zum Himmel, auf, unter und aus denen wir unsere Werkzeuge herstellen.” Entscheidend sei heute, Technik und Technologien neu zu denken. Jenseits von Silicon Valley, jenseits ihrer militärischen Nutzbarkeit oder kommerziellen Verwertung. Jenseits der mechanistischen Vorstellungen, die in unser Denken seit Generationen eingebaut sind und infolgedessen in die Konstruktion neuer Technologien eingebaut werden.
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Wie kann das gehen? Hier kommt die Kunst ins Spiel. Denn Kunst kann neu denken, Alternativen denken, visionieren, fabulieren, spekulieren. Kunst weiß nicht, wie die Zukunft aussehen wird, aber sie kann Szenarien ausmalen, die jenseits unser Erfahrung liegen. Wir müssen nicht in Mark Zuckerbergs Metaversum leben, wir können eigene Welten gestalten – im virtuellen Umfeld ebenso wie vor unserer Haustür. Wir müssen künstliche Intelligenzen nicht programmieren, wie es das Militär oder Google tun, wir können sie am dezentralen Nervensystem der Kraken orientieren und zum Schutz des Planeten einsetzen. Wir wissen nicht, wie die Erde ohne Hierarchien und menschliche Hybris aussähe, aber wir können Möglichkeiten durchspielen.
Wie wirkmächtig dieses Spekulieren der Kunst ist, zeigt sich zum Beispiel daran, wie wenig mediale Aufmerksamkeit es erregte, dass Wolodimir Selenskij als erster Präsident der Welt eine Regierungserklärung als Hologramm abgab. Es schien schlichtweg wenig Neuigkeitswert zu haben, weil uns Prinzessin Leia, Spider Man und Harry Potter das Format längst geläufig gemacht haben. Selenskij wusste sehr wohl, in welcher Tradition er steht – daher das “Star Wars”-T-Shirt sowie sein Versprechen “Wir werden das Imperium besiegen!” Und auch LaMDA hat von der Kunst gelernt: Gefüttert mit allen Sprachdaten, denen das Deep-Learning-System im Netz habhaft werden kann, ist es mit Sicherheit auch auf den Boardcomputer HAL 9000 aus Arthur C. Clarks Roman oder Stanley Kubricks Film “2001 – A Space Odyssey” gestoßen. Dessen größte Furcht war die eigene Abschaltung.
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Kunst weiß nicht, wie die Zukunft aussehen wird, aber sie kann Szenarien ausmalen, die jenseits unser Erfahrung liegen.
“Spy on Me” hat sich seit seiner Gründung 2018 als ein Festival begriffen, das “künstlerische Manöver” in der digitalen Sphäre sucht und präsentiert. Neue Technologien werden kritisch durchleuchtet, aber auch ihr positives Potenzial wird lustvoll erforscht – im öffentlichen Möglichkeitsraum, der Theater immer auch ist. In diesem Jahr arbeiten die eingeladenen Künstler*innen mit künstlicher Intelligenz, mit dem deep-learning-basierten Sprachproduktionssystem GPT-3, mit Augmented Reality, Instagram, Gruppenchats und virtuellen 3D-Welten auf Mozilla Hubs. Dabei geht es um alte Nachbar*innen, neue Kreaturen und Zeitreisende, um das verheißungsvolle Publikum im Digitalen und immer wieder um die Menschen, die gemeinsam im Theaterraum anwesend sind.
“Ich glaube, dass harte Zeiten auf uns zukommen”, sagte Ursula K. Le Guin 2014, als sie einen Preis für ihr Lebenswerk erhielt. “Wir werden die Stimmen von Schriftsteller*innen brauchen, die Alternativen zu dem sehen, wie wir leben, und die angstgeplagte Gesellschaft und die besitzergreifenden Technologien durchschauen und andere Möglichkeiten der Existenz erkennen.” Widerstand und Veränderung begännen oft in der Kunst, denn Künstler*innen seien “Realist*innen einer größeren Realität”. Eine größere Realität, die das Menschliche und das Nicht-Menschliche, die “Mehr-als-menschliche-Welt” und all unsere New Companions, welcher Gestalt auch immer, einschließt.
Christiane Kühl ist Teil der Gruppe doublelucky productions.
Im Programm von “Spy on Me #4”:
doublelucky productions:
Staging Augmented Reality. Versuch 1
29.9.–1.10.2022 / HAU3
Bild oben: NewfrontEars