Für mich ist Choreografie heute eine Struktur, in der ich Orte, Menschen, Geschichten, künstlerische Praxis und Erinnerungen miteinander verknüpfen kann. Hier eröffnen sich neue kritische und poetische Möglichkeiten fern von der geschichtlich dominierenden Praxis der Abgrenzung, einem Ergebnis der abstrahierenden Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung sowie Machtstrukturen. Mittels Fiktion, Montage und poetischer Verdichtung setze ich im Theater- wie im Museumskontext auf die Einbildungskraft, um die Interaktion mit dem Publikum zu stärken.
Mit der “Monument”-Serie engagiere ich mich seit 2014 in einer spekulativen Geschichtsschreibung ohne teleologisches Versprechen. Es handelt sich um körpergebundene, performative und temporäre Monumente, die ich als Emanzipationsprozesse von positivistischen Geschichtskonzeptionen und als Maßnahmen gegen den Gedächtnisverlust betrachte. Es sind tatsächlich eher Anti-Monumente, bei deren Nummerierung ich unterhalb der Schwelle der Zahl Eins bleibe. Sie leisten Widerstand gegen das Vergessen und die Ausgrenzung, und indem sie eine eigene Erinnerung entwerfen, können sie transformierend und reparierend eingreifen – sie gestalten als performative Archive poetischer Dokumente eigenständige Narrative. Fragmente werden zu einer Hommage an vergessene Künstler*innen, alternde Körper oder Rhythmen und Gesten unterdrückter Kulturen zusammengesetzt, und Spuren der Vergangenheit wird eine neue Bedeutung verliehen, ohne sie auf Relikte zu reduzieren.
Valeska Gert gehörte als Künstlerin zur Avantgarde. Anfang der 1920er-Jahre entwickelte sie eine Performancepraxis, in der sie Schauspiel, Tanz, Kino, Poesie und Gesang in einer eher für die damalige Berliner Kabarettszene üblichen Mischung miteinander verband. In ihrer radikalen Performancekunst experimentierte sie mit Genderfragen ebenso wie mit ethnischer, nationaler und stilistischer Identität. Ungeachtet ihrer künstlerischen Unerschrockenheit und der provokativen und anarchischen Intensität ihrer Auftritte wurde die Bedeutung von Valeska Gerts Arbeit für die Kunst- und Tanzgeschichte lange Zeit nicht gebührend gewürdigt.
Das Monument präsentiert keine Dokumente, sondern arbeitet mit Einbildungskraft auf der Basis von autobiografischen und fiktiven Elementen.
Ausgangspunkt des Valeska Gert Monuments ist der Gedanke, dass wir die Vergangenheit, wenn wir uns schon nicht an sie erinnern können, immer noch neu erfinden können. Im Mittelpunkt des temporären Monuments stehen Arbeiten, von denen es keine Aufzeichnungen gibt – was für den überwiegenden Teil des Werks dieser fast gänzlich in Vergessenheit geratenen Künstlerin gilt. Was bedeutet es, Spekulationen über das Leben und das Werk einer nicht mehr lebenden Künstlerin anzustellen? Wie lässt sich etwas spurlos Verschwundenes vergegenwärtigen? Was geschieht, wenn Kunstwerke ausgehend von einem einzigen Foto, Gedicht oder Titel neu imaginiert werden und das Vertrauen in die geschichtliche Wahrheit außer Kraft gesetzt wird?
Das Valeska Gert Monument setzt die Konzepte der Erinnerung, des Archivs und der Geschichte in eine Spannung zueinander und stellt zugleich ein Instrument dar, um durch kritische, ethische und poetische Einfühlung ein historisches (utopisches) Bewusstsein zu entwickeln. Das Monument präsentiert keine Dokumente, sondern arbeitet mit Einbildungskraft auf der Basis von autobiografischen und fiktiven Elementen. Im Monument stehen Gedanken, Äußerungen und Gesten neben historischen Anklängen und dem Echo historischer Ausdrucksformen; gemeinsam fügen sich diese Aspekte zu einem transsubjektiven und multidimensionalen – physischen, textlichen, stimmlichen, poetischen – Raum.
Wie beeinflusst die Fiktion unser Verhältnis zu Wissen und Wissensproduktion?
Was für einen Wert kann ein fiktionales Archiv haben? Wie beeinflusst die Fiktion unser Verhältnis zu Wissen und Wissensproduktion? Was für eine Bedeutung lässt sich konstruieren, sofern wir anerkennen, dass unser Verhältnis zur Geschichte eine Geschichte hat? Elemente der Vergangenheit aus einem heutigen Blickwinkel zusammenzusetzen ist etwas anderes, als sich auszumalen, wie die Vergangenheit gewesen sein könnte. Über die bloße Faszination und Mimesis hinausgehend, soll ein verfehltes geschichtliches Bewusstsein problematisiert werden und ein neues Verhältnis zur Vergangenheit gefunden werden, um die Zukunft (der Kunst und der künstlerischen Praxis) zu gestalten. Die Performativität des Valeska Gert Monument steht mithin den Prinzipien von Verkörperung und Einfühlung näher als dem Reenactment.
Was bleibt im Fischernetz der Geschichte hängen? Es gab und gibt bestimmte Gründe, warum Valeska Gert in der Kunstgeschichte keine bedeutendere Rolle zukommt. Sie war eine künstlerische Einzelgängerin, begründete keine Schule, prägte keinen Stil, rief keine Tanzkompagnie ins Leben. Die Frage, was wir lernen und wie wir lernen, ist zusammen mit der Frage nach dem, was und wie wir erinnern, entscheidend für die Entwicklung eines nicht normativen, kritischen Verhältnisses zur Wissens- und Kunstproduktion. Erinnerung und Archivierung dienen nicht allein unserem historischen Wissen. Archive formen unser Vorstellungsvermögen und damit auch unsere Zukunft.
© Eszter Salamon, 2018