Digitale Empathie

Ein Interview mit Nadia Ross von STO Union und Liane Sommers von NewfrontEars

Mit zwei neuen Arbeiten, die im Rahmen des Festivals am HAU Hebbel am Ufer zu sehen sind, erforschen Nadia Ross von STO Union und Liane Sommers von NewfrontEars die Möglichkeiten digitaler Mittel, Zweisamkeit und ein Gefühl von Gemeinschaft herzustellen. Im Gespräch mit Annemie Vanackere und der Dramaturgin Maria Rößler sprechen die beiden über aufmerksamkeitsfressende Apps, Dopamin-Feedbackschleifen und Technologien, die nicht nur unsere Wahrnehmung verändern, sondern auch einen Einfluss auf unsere Empathiefähigkeit haben könnten.

Annemie Vanackere und Maria Rößler: In eurer künstlerischen Zusammenarbeit, Nadia und Liane, spielt und arbeitet ihr beide mit alltäglichen digitalen Medien und Technologien. Sie spielen sowohl in “P.O.R.N. (Portrait of Restless Narcisissm)” als auch in “FEEEEEEEED” eine sehr präsente und aktive Rolle. Wie beeinflussen und verändern diese Technologien eurer Meinung nach das menschliche Verhalten und unsere Sehnsüchte? Was können wir aus der Art und Weise, wie wir mit ihnen interagieren, über uns selbst lernen?

Liane Sommers: Nun, eine Sache ist offensichtlich: Es ist scheinbar für sie sehr einfach, unsere Aufmerksamkeit für beträchtliche Zeit in Beschlag zu nehmen und für sich zu beanspruchen, dafür sind wir wohl alle anfällig. Offensichtlich funktioniert die menschliche Wahrnehmung so, dass uns Reize in unserer näheren Umgebung in ihren Bann ziehen. Es ist einfach Teil unseres Überlebensinstinkts, wachsam zu sein, immer bereit für einen Angriff. Ironischerweise haben diese neuen Technologien das Potenzial, genau diese menschliche Fähigkeit auszunutzen.

“Wir wissen, wie man jemanden von etwas abhängig macht. Was sagt das über uns aus?” 

Nadia Ross: Wir wissen mittlerweile so viel mehr darüber, wie das Gehirn arbeitet. So wissen wir z.B. auch, wie Sucht funktioniert. Wir wissen, wie man jemanden von etwas abhängig macht. Was sagt das über uns aus? Sicherlich, dass wir außergewöhnlich verletzliche und anpassungsfähige Wesen sind. Momentan lerne ich, wie man die Angst und das Mysteriöse, das dieses Thema umgibt, etwas auflösen kann. Immer wenn ich etwas besonders Geheimnisvolles sehe, werde ich sehr pragmatisch und sage so etwas wie: Kommt schon, lasst uns hier nicht nach Gurus suchen, sondern lieber versuchen, herauszufinden, was wirklich los ist. Heute bedienen wir uns vieler mächtiger Werkzeuge und auch in der Vergangenheit hatten wir immer wieder sehr kraftvolle, furchteinflößende Werkzeuge zur Hand, die uns so lange mystifiziert und dazu gebracht haben, verrückte Dinge zu tun, bis wir sie allmählich besser verstanden haben. Neue Technologien haben genau die gleiche Wirkung auf uns: Wir fühlen uns von ihnen überwältigt, deshalb wenden wir uns an unsere Götter und schauen lieber schnell weg. Immer, wenn wir vor besonders vagen und gleichzeitig sehr großen Fragen stehen, verschließen wir lieber die Augen, als uns sich ihnen zu stellen. Wenn wir aber nicht hinsehen, kommt das immer denen zugute, die diese Technologien besitzen. Wir müssen an ihnen vorbeischauen, um das wirklich wichtige dahinter zu sehen. 

LS: Genau, aber ich denke auch, dass wir diese Phase vielleicht durchlaufen und dabei wachsam bleiben müssen. Im Laufe der Zeit werden die tatsächlichen Auswirkungen empirisch sichtbar. Mittlerweile sind die meisten Menschen, die ich kenne, auf die eine oder andere Weise betrogen worden, ob wirtschaftlich oder emotional. Die Wirkung von neuen Technologien auf unsere psychische Gesundheit wird immer offensichtlicher. Sie wirken sich auch physisch auf unseren Körper aus: Sie beeinflussen, wie wir sitzen, wie wir uns bewegen, sogar die Muskeln in unseren Augen verändern sie. Welche langfristigen Folgen bringt das mit sich? Der Klimawandel macht uns heute die Auswirkungen der Industrialisierung deutlich und zwingt uns, darauf zu reagieren. Deshalb gibt es, glaube ich, auch ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass wir im digitalen Zeitalter Vorsicht walten lassen müssen. Gleichzeitig erscheint es in der heutigen Realität jedoch unwahrscheinlich, dass irgendeine Art von Schutz oder Gesetzen umgesetzt wird, solange nicht auch die Machthabenden die Auswirkungen am eigenen Leib spüren. Es ist wichtig, dass wir uns, während wir Teil dieser technologischen Entwicklungen sind, informieren und bilden. Und ebenso wichtig ist es, dass wir unsere Fähigkeit, Dinge kritisch zu hinterfragen, weiterentwickeln.
 

“Man setzt sich einer Flut von Inspiration aus, an dessen Ende allerdings nichts als ein taubes Gefühl zurückbleibt.” 

MR: Nadia erwähnte das Gefühl, von aufmerksamkeitsfressenden Apps, Computern und Programmen “abhängig” zu sein. Es scheint einen ständigen Feedbackzyklus von aufmerksamkeitssuchender, aufmerksamkeitsgebender und ständig wachsender, immer mehr Aufmerksamkeit fordernder Technologie zu geben. In euren Aufführungen wird diese Erfahrung jedoch anders dargestellt. Wie setzt ihr diese dopamingesteuerten Feedbackschleifen in eurer künstlerischen Arbeit um? 

LS: In “FEEEEEEEED” versuchen wir, diese Schleife zu beschleunigen und Zwischenräume aufzumachen, die sich zwischen dem Netzwerk, uns und der Software, die wir benutzen, noch finden lassen. Wir interessieren uns z.B. für die störende Kraft von Memes und die Metaerzählungen, die durch sie entstehen. Die Ausschüttung von Dopamin ist dabei ein essenzieller Teil des Schöpfungsprozesses und der Vorwegnahme von Ideen. Sie hilft uns dabei, diesen Ideen näherzukommen. Das Problem, das der Konsum digitaler Medien aufwirft, ist, dass Dopamin schnell und in kurzen Schüben ausgeschüttet wird. So spielt es mit unserem Kurzzeitgedächtnis und legt unsere Kreativität lahm, so dass unsere Ideen nicht mehr in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Man setzt sich einer Flut von Inspiration aus, an dessen Ende allerdings nichts als ein taubes Gefühl zurückbleibt ... Ich erinnere mich, dass ich früher dasselbe Gefühl hatte, wenn ich MTV schaute – als MTV noch der einzige Kanal war, den wir zu Hause empfangen konnten (neben BBC World News). Ich saß da und schaute mir das Programm an, und nach einer Weile fühlte ich mich körperlich krank. Mit dem Internet ist es ge­nauso. Hinzu kommt, dass heute viele Menschen die Einstellung haben, dass man dann eben zum Ausgleich Netflix guckt, weil es dort längere Formate mit einer anderen Art von Dopamin-Feedbackschleife gibt. Wenn man ständig zwischen diesen Schleifen hin- und herspringt, tritt das Gefühl einer Selbstbelohnung jedoch leider nicht mehr so ein, wie es eigentlich sollte. Um diese Schleifen wirklich für mich nutzen zu können und nach meinem eigenen Willen zu agieren, muss ich aus dem ganzen Kreislauf ausbrechen und im Hier und Jetzt präsent und mit anderen Menschen zusammen sein.

NR: Ich bin auf gewisse Weise ein wenig altmodisch. Mein Ansatz ist es, das durch den Körper zu machen: Es geht um das Verdauungssystem des Körpers, um den emotionalen Körper und das Bewusstsein. Darüber hinaus glaube ich immer noch, dass das Geschichtenerzählen eines der ältesten und essenziellsten Werkzeuge ist, das wir besitzen. Menschen durch eine Erfahrung zu führen, in der sie eine Situation emotional verdauen können, ist ein wichtiger Teil dieses Prozesses. Weinen, Wut, Gefühle. Ich mache Gebrauch von meinem emotionalen, mentalen, physischen Körper, um die Situation, in der ich mich befinde, zu verdauen. Für mich geht es darum, sowohl emotional als auch intellektuell zu verarbeiten, was vor sich geht, indem ich den Körper in einem Raum mit anderen Men­schen zusammenbringe.

“Ich werde nicht mehr auf Konferenzen gehen, auf denen nicht auch getanzt wird.”

AV: Dass in einem Theater oder jedem anderen Raum, in dem Menschen zusammenkommen, etwas sehr Altes im Spiel ist, trifft meinen Nerv. Vielleicht kann uns unser körperliches Zusammensein in einem Raum dabei helfen, uns durch das digitale Zeitalter zu manövrieren und neue Formen der Resilienz, neue Sehweisen, zu entwickeln? 

LS: Ja, absolut. Ich glaube auch, dass es wichtig ist, gemeinsam in einem Raum zusammenzukommen. Unser Projekt lädt Menschen dazu ein, Inhalte auf unterschiedliche Weise zu erleben, indem sie auf beide Seiten des Bildschirms treten und sich durch verschiedene Zeiten bewegen. Während intelligente Technologie versucht, uns sinnvoll zu verstehen, suchen wir nach dem Unsinn in diesem Prozess. Wir interessieren uns für die Räu­me zwischen den Dingen und für die Idee, im Übergang zu sein. Dabei merken wir, dass Worte tatsächlich versagen können, wenn man sich beispielsweise bei der Google-Suche selbst Tags gibt, um identifizierbar zu sein. Es sollte uns allen möglich sein, uns zu verschieben und zu verändern, so sehr wir wollen, ohne dabei für einen Markt identifizierbar bleiben zu müssen.

NR: Was mich interessiert und warum wir diese Produktion überhaupt machen, ist die Tatsache, dass uns diese Theaterräume mit Sitzplätzen zur Verfügung stehen, absolut verrückt! In Großstädten überall auf der ganzen Welt stehen diese leeren Theaterstühle, wie in einer lächerlich teuren Immobilie, und die Leute wissen scheinbar nicht mehr so recht, was sie mit ihnen anfangen sollen, weil die Digitaltechnik alles so sehr verändert hat, dass wir uns nicht mehr auf die gleiche Art begegnen. Für mich entwirft “P.O.R.N. (Portrait of Restless Narcisissm)” die letzte, äußerste Möglichkeit eines Stücks, das ich in diesem Zusammenhang aufführen könnte: “P.O.R.N.” Das Letzte, was ich jetzt noch zeigen kann, ist Pornografie! In diesem Kontext, in diesen großen Theatersälen mit den vergoldeten Sitzen, hat das Digitale gewissermaßen einen letzten Aufruf an diese Art von System oder Struktur geschaffen. Gleichzeitig erforschen aber Menschen heute auch andere Arten des Zusammenseins, z.B. durch neue Kooperationen, durch Poesie oder die Übersetzung von Technologie in andere Zusammenhänge – und das ist sicherlich die positive Seite des Digitalen.

“Ich erkenne eine Menge Schmerz und Traurigkeit in den Menschen, die sich dem Showbusiness der digitalen Selbstdarstellung verschrieben haben.” 

LS: Im Hinblick auf die Widerstandsfähigkeit wäre es meiner Meinung nach nützlich, wenn wir mit der Zeit lernen würden, unseren Zugang zur digitalen Welt zu kuratieren, um uns so selbst mehr Raum zu geben. Wir sollten mehr über unser Muskelgedächtnis lernen. Wenn man ein Smartphone besitzt, kann man noch so gute Absichten haben, unsere Hände haben trotzdem ihr eigenes Gedächtnis. Wenn wir nicht lernen, unser Verhalten aktiv körperlich zu verändern und diese Fähigkeit nicht trainieren, werden wir es auf jeden Fall schwer haben. Ich bin davon überzeugt, dass es bestimmte Techniken gibt, die wir in dieser Phase der Entwicklung etwas ernster nehmen sollten.

NR: Und dazu gehört auch Tanzen! Ich werde nicht mehr auf Konferenzen gehen, auf denen nicht auch getanzt wird. Wir Menschen brauchen diese grundlegenden Dinge, haben sie aber in unserer Verblendung schon ganz vergessen. 

MR: Wir haben vorhin über Aufmerksamkeit gesprochen und darüber, wie sie beeinflusst und verändert wird. Ich frage mich, wie digitale Darstellungen und das, was wir über Bildschirme wahrnehmen, auch andere menschliche Fähigkeiten wie z.B. Einfühlungsvermögen, Fürsorge, Hingabe, Liebe beeinflussen können. Können neue Technologien wirklich grundlegend verändern, wie emphatisch Menschen sind oder wie aufmerksam und fürsorglich sie sich anderen gegenüber verhalten? Heute sind es ja überall vor allem die jungen Menschen, die auf die Straße gehen, um sich für Gerechtigkeit einzusetzen und um den Planeten zu kümmern. Daraus spricht sehr stark, wie viel Empathie sie für andere Formen von Leben haben.

“Es gibt nichts Besseres, als durch den Körper Empathie zu empfinden.”

AV: Und ich sehe gleichzeitig gerade viele ältere Menschen, die ihre Telefone nicht mehr aus der Hand legen können.

LS: Wenn ich persönlich in die sozialen Medien eintauche, finde ich es sehr interessant zu beobachten, dass Menschen dort Versionen von sich selbst präsentieren, die stark konstruiert sind. Ich erkenne eine Menge Schmerz und Traurigkeit in den Menschen, die sich dem Showbusiness der digitalen Selbstdarstellung verschrieben haben, was wiederum ein gewisses Maß an Empathie in mir auslöst. Diese Art der Darstellung ist sehr aufschlussreich und kann großartig sein, wenn man Verbindungen aufbauen und neue Beziehungen mit Unbekannten initiieren möchte. Bei dem Projekt, das wir für “Spy on Me #2” durchführen, haben Alex und ich über solche Netzwerke eine besondere Verbindung zu Oozing Gloop hergestellt, und es war eine wahre Freude. In der analogen Welt hätten wir vielleicht nicht auf die gleiche Art und Weise Kontakt aufnehmen können. Nachdem wir die Verbindung aufgenommen hatten, verließen wir jedoch unseren Platz hinter dem Bildschirm und trafen uns in einem Raum, wo wir nun – ganz physisch real – zusammenarbeiten. Wenn man für solche Verbindungen offen ist, können digitale Netzwerke tolle Orte sein. Was die Empathie angeht, so hängt es meiner Meinung nach davon ab, was man sucht, wenn man die Verbindung zu einem Netzwerk eingeht. Phänomene wie Trolling und Cyberbullying scheinen zu beweisen, dass es da draußen Menschen mit einem verzerrten Verhältnis zur Macht gibt, dass es andererseits aber auch on­line Gruppen und Gemeinschaften gibt, die sich gegenseitig unterstützen und die einem sehr freundlich begegnen, wenn man sie aufsucht. 

NR: Nun, es gibt sicher eine Form von geistiger und gedanklicher Empathie und dann wiederum Empathie, die über den Körper funktioniert. Auf der einen Seite denke ich z.B. an die Empathie, die ich empfinde, wenn ich online etwas sehe, sagen wir mal: Ich sehe online einen verletzten Hund und mein Gehirn reagiert auf eine bestimmte Weise. Nun habe ich die Möglichkeit, einen Kommentar abzugeben und so mein Mitgefühl auszudrücken. Mein Mitgefühl wird sich sicher anders anfühlen, wenn sich der verletzte Hund im gleichen Zimmer befindet wie ich. Wie wirkt sich dieser Unterschied auf mein Verhalten aus? Ich führe hier also noch einmal den Körper als eines der besten technologischen Hilfsmittel an, das je geschaffen wurde. Eine seiner wichtigsten Funktionen ist die Empathie, es geht dabei um Liebe und Gefühl. Diese Konzepte werden eben durch den Körper aktiviert. Man kann sie auch über das Gehirn empfinden, aber das ist oft hauptsächlich Projektion. Das ist wie im Kopf masturbieren, was auch gut ist. Aber es gibt nichts Besseres, als durch den Körper Empathie zu empfinden. Wir müssen anfangen, diese Bedeutung anzunehmen, wenn wir weiterhin in unserem Körper präsent und menschlich bleiben wollen.

AV: “P.O.R.N.” zeigt jedoch eine Geschichte, in der diese Verbindung am Ende scheitert.

NR: Natürlich, es ist ja auch eine Tragödie! Für mich ist die Tragödie das perfekte Format für “P.O.R.N.” Sie fängt Machtdynamiken gut ein und zeigt, wie Macht alles korrumpiert. Gefühle sind ein Teil unserer Verfassung. Wenn Sie sich also ein wenig deprimiert und verängstigt fühlen, kommen Sie und schauen Sie sich das Stück an. Es wird Sie tief traurig stimmen, aber Sie werden von anderen Menschen umgeben sein, die ebenfalls traurig sind. Und das ist auch eine Art des Zusammenseins.

AV: Nach der Vorstellung kann man also die Wirkung von Katharsis spüren, und sogar den Wunsch, die Person neben uns zu umarmen. Und wenn wir aus der Performance von NewfrontEars kommen, können wir denken: “Man kann mit diesen Technologien echten Unsinn treiben; wir können sie verdrehen und für unsere eigenen Zwecke nutzen!” Es sind verschiedene Strategien im Spiel. Es ist Zeit, den Spaß und die Kreativität zu entdecken, die das Experimentieren mit Technologien bringen kann und unser Reflexionsvermögen durch verschiedene künstlerische und theoretische Impulse zu verbessern. Wir müssen immer weiter lernen!

  • STO Union & Carte Blanche

    P.O.R.N. (Portrait of Restless Narcissism)
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  • NewfrontEars & Oozing Gloop

    FEEEEEEEED
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