Alles muss sich ändern

Paul B. Preciado

Nichts wird mehr sein wie vor der Corona-Pandemie, prophezeit Paul B. Preciado und kritisiert damit die Diskurse derer, die sich nach der Rückkehr zu einem “Vorher” sehnen. Durch eine Aufzählung historischer Ereignisse macht er klar, dass ein Zurück zu einem vermeintlich intakten Vorher aus der Sicht der Subalternen absurd erscheint, da für sie jeder historische Moment immer schon durch den Kampf gegen Auslöschung geprägt war. So fordert er, dass die Zeit der nekropolitischen, kolonialen und patriarchalen Politiken aufbricht.
 

Sie tun mir leid, diejenigen, die denken, dass sich nichts ändern kann. Alles wird so bleiben, wie es auch vorher schon war, so meinen sie, und in diesem vorher, von dem sie sprechen, klingt diese offenbar vergangene Zeit bereits wie eine Prophezeiung. Aber was verstehen sie unter “vorher”? Vor wem oder was? Vor dem Ausbruch von Covid-19? Bevor die Wohlstandsgesellschaften des Nordens ihre Großeltern in den Pflegeheimen sterben ließen und dabei die rassifizierten Bevölkerungsgruppen auf dem Höhepunkt der Pandemie alle Pflege- und Fabrikarbeit alleine verrichten ließen? Oder bevor 60000 Personen gegen den institutionellen Rassismus in Frankreich und die Polizeigewalt demonstrierten? Oder bevor Adama Traorés Herz unter dem Gewicht von drei Polizisten, die ihn brutal fixierten, zu schlagen aufhörte? Oder bevor die Polizei von Minneapolis George Floyd erstickte? Oder bevor Rayshard Brooks, ein weiterer junger Afro-Amerikaner, der in seinem Auto für ein Fast-Food-Restaurant Schlange stand, von der Polizei getötet wurde? Oder bevor Alicia Garza, Patrisse Cullors und Opal Tometi das Kollektiv des zivilen Ungehorsams “Black Lives Matter” ins Leben riefen, um gegen Polizeigewalt zu kämpfen? Oder vielleicht sprechen sie von der Zeit vor der Ermordung von Lamia Beard, Ty Underwood, Yazmin Payne und Taja Gabriel de Jesus, vier rassifizierten Transfrauen in den USA? Oder beziehen sich eher, wenn sie von vorher sprechen, auf eine Zeit vor der Revolution der Sklaven in Haiti? Oder bevor Toussaint Louverture im Gefängnis Fort de Joux an Kälte und Hunger starb? Oder bevor Susie King Taylor die erste US-amerikanische Schule eröffnete, die entflohenen Sklaven das Lesen lernt? Oder bevor Aïssa Maïga, Adèle Haenel und Céline Sciama gegen das patriarchal-koloniale Funktionieren der französischen Filmindustrie rebellierten? Oder noch vor den tausenden, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt anklagenden Tweets von Frauen aus allen Kontinenten? Oder bevor die ägyptische lesbische Sängerin Sara Hegazy sich in ihrem kanadischen Exil umbrachte? Oder vielleicht gehen sie viel weiter zurück, wenn sie von früher sprechen, und sie denken an ein Vorher, als Frauen – weiße – auch in demokratisch genannten Gesellschaften noch kein Wahlrecht hatten? Oder noch weiter zurück zu Anna Göldlin, Europas letzter “Hexe”, die 1782 zum Tode verurteilt wurde, nur damit ihr Arbeitgeber verbergen konnte, dass er sie zum Sex gezwungen hatte? Oder an eine Zeit vor der Abschaffung des Rechts des Pater Familias, das ihn über das Leben seiner Frau und seiner Kinder verfügen ließ?

Von welchem Vorher sprechen sie? Vor der Erfindung des Geldes? Oder vor der Menschwerdung? Oder vor dem Big Bang?

Ich fürchte mich vor denen, die denken, dass sich nichts ändern kann. Sie glauben, dass die Dinge sich nur verschlimmern können. Schlimmer als wer oder was? Bevor Frontex an die Strände des Mittelmeers verlegt wurde und hundertausende Migrant*innen ertrunken sind? Oder noch vor der Subprimes-Krise 2008? Oder vor der Welle an neoliberalen Privatisierungen und unrechtmäßigen Entlassungen? Oder vielleicht vor den Revolten der Banlieues 2005? Oder bevor die Black-Lives-Matter-Aktivist*innen die Statue von Edward Colston in Bristol stürzten? Oder bevor 50000 afrikanische Männer, Frauen und andere an die englische Küste gebracht wurden, um dort als Sklaven gekauft und verkauft werden zu können? Oder noch bevor koloniale Enteignung England zum wohlhabenden Empire machte? Oder bevor der französische Minister Colbert im Code Noir “Schwarze als bewegliches Eigentum” definierte und so ihren Verkauf legalisierte? Oder vor der Erfindung des Begriffs Rasse als einer Fiktion kolonialer Wissenschaft, der dazu beitrug, Sklaverei und die Ökonomie der Plantage zu legitimieren? Oder vor der Erfindung der Begriffe Heterosexualität und Homosexualität als Normalität und Pathologie? Oder bevor Homosexualität 1975 entpathologisiert wurde? Oder Trans politisiert? Oder bevor Jüdinnen und Juden in den Ghettos eingeschlossen wurden und ihre politische und militärische Auslöschung organisiert wurde? Oder vor der Niederlage Hitlers und der Auflösung der Konzentrationslager? Oder vor dem Abwurf der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki? Oder noch vor der Bandung-Konferenz und dem Eintritt der ersten dekolonisierten Länder in die globale Geopolitik? Oder bevor Frantz Fanon seine französische Identität aufgab, um Algerier zu werden? Oder vor dem algerischen Unabhängigkeitskrieg? Oder bevor Martin Luther King Amerika träumen ließ? Oder eher vor seinem Attentat? Oder vor dem Attentat auf Malcolm X? Oder bevor Angela Davis zum Tode verurteilt wurde? Oder bevor sie befreit wurde? Oder bevor sie auf den Lehrstuhl der History of Consciousness der Universität von Santa Cruz in Kalifornien berufen wurde? Oder bevor Obama zum Präsidenten der USA gewählt wurde? Oder vielleicht sprechen sie von einer Zeit, bevor der Front National, neuerlich Rassemblement National, 22,8 % der Stimmen in der ersten Runde der Wahlen von 2017 erhielt? Von welchem Vorher sprechen sie sonst? Vor der Erfindung des Geldes? Oder vor der Menschwerdung? Oder vor dem Big Bang?

Das Privileg der patriarchal-kolonialen Macht ist auch das Recht auf Zeit und Geschichte.

Für Adama Traoré, George Floyd, Rayshard Brooks, Lamia Beard, Ty Underwood, Yazmin Payne, Yazmin Payne, Taja Gabriel de Jesus... gab es kein Vorher, das nicht schon zu spät war, und jetzt gibt es kein Nachher. Selbst die Zeit ist nicht für alle gleich. Für manche, für die gewaltsam rassifizierten und sexualisierten Körper, für schwarze Körper, migrantische, die Körper der Frauen, Homosexuellen, Transsexuellen. Für die Alten, die von der Arbeit nicht leben können, die Kranken, Menschen mit Behinderung ... jede Minute ist ein Kampf, jede Erinnerung ein Abdruck, der verzweifelt versucht, seiner Auslöschung zu entgehen. Das Privileg der patriarchal-kolonialen Macht ist auch das Recht auf Zeit und Geschichte.

Die Geschichte des Vorher steht einen Moment lang still.

Nichts wird mehr sein wie vorher, weil wir zu Tausenden auf die Straße gehen und weil wir getan haben, was niemand von uns erwartet hat: Wir haben der Macht, die uns objektiviert, ins Gesicht gesehen und gesagt “Nie wieder”. Nichts wird mehr sein wie vorher, denn dies ist ein weltweiter Aufstand lebendiger Körper gegen die Nekropolitik: gegen den Einsatz von Gewalt und Tod als Regierungsform subalterner Bevölkerungen. Die Geschichte des Vorher steht einen Moment lang still. Genau das ist eine Revolution: eine Erschütterung der Zeit, die die ohrenbetäubende Wiederholung der Unterdrückung aussetzen lässt, damit ein neues Jetzt beginnen kann. Die Zeit der Revolution beginnt. Alles muss sich ändern. Du musst dich ändern. Und es beginnt die Zeit derer, die vorher kein Recht auf Geschichte hatten.

Dieser Text ist zuerst in der Zeitung “Liberation” unter dem Titel “Tout doit changer“ erschienen. Aus dem Französischen übersetzt von Stephan Geene.