Ein Text aus der Zeitung zum Festival “Berlin bleibt #4 – Treffpunkt Mehringplatz”
“Liiiiiiicht!”, hallt es durch die Häuserschlucht am südlichen Ende der Friedrichstraße. Sie fängt am Mehringplatz an, dort befindet sich die Hausnummer 1. Noch einmal schriller, fordernder: “Liiiiiicht!” Schreiende Menschen sind keine Besonderheit hier. Die Neugierde treibt uns trotzdem auf den Balkon. Zu spät. Die Ruferin ist im Birkenwäldchen hinterm Hochhaus gegenüber verschwunden. Brüllt weiter. Licht. Alle brauchen Licht. Mehr Licht. Vor allem der Teil unserer Nachbarn1, der nach hinten raus wohnt. Denen hat ein sechsstöckiger Neubau vor zwei Jahren die Dunkelheit der Hinterhöfe alter Mietskasernen an die Frühstückstische gebracht, ihre Balkone der Sinnlosigkeit preisgegeben. Aber nun, da die Tage länger werden, das Gras grüner und der Brunnen am Theodor-Wolff-Platz wieder sprudelt, werden wir uns alle wieder draußen treffen. Vielleicht sogar am Mehringplatz selbst, wo sich die Bauarbeiten nach zehn Jahren ihrem Ende zuneigen. Auf jeden Fall unter freiem Himmel. In der Berliner Luft.
21. Dezember 1924, der kürzeste Tag des Jahres: Noch einmal zieht eine Menschenmenge mit roten Fahnen vom Halleschen Tor kommend über den Belle-Alliance-Platz und weiter durch das Berliner Zeitungsviertel zwischen Wilhelm- und Lindenstraße. Sechs Jahre ist es her, dass revoltierende Arbeiter im sogenannten Spartakus-Aufstand die Redaktionen der Zeitungen besetzten, der SPD-Vorsitzende und Chef der Übergangsregierung Friedrich Ebert sie vom Militär zusammenschießen ließ und sein “Bluthund” Gustav Noske (ebenfalls SPD) den Befehl gab, die Köpfe des Widerstands Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ermorden. Auftakt für ein landesweites Massaker an den Revolutionären, das mit der blutigen Niederschlagung der Bayerischen Räterepublik am 1. Mai 1919 in München ein furchtbares Finale finden sollte. Nun aber scheint die Revolution für ein paar Stunden zurück in Berlin zu sein, erschallen erneut kämpferische Lieder in den Straßen der Südlichen Friedrichstadt. Mit kritischer Miene beäugt der Chefredakteur des liberalen “Berliner Tageblatts” Theodor Wolff das Treiben von einem Fenster seiner Redaktion aus. Doch nicht die Zeitungen sind diesmal das Ziel des Aufmarsches, sondern der Anhalter Bahnhof, wo ein großes Polizeiaufgebot die Menge bereits erwartet. Es kommt zu Tumulten, Köpfe brechen unter Knüppeln, ein Maschinengewehr wird in Stellung gebracht. Da endlich läuft der Zug aus München ein, und die Demonstranten tragen ein schmächtiges, rotbärtiges Männlein auf ihren Schultern aus dem Bahnhof. Es ist der wohl schillerndste und faszinierendste Anführer der deutschen Revolutionäre – der anarchistische Dichter und Bohemien Erich Mühsam, Gründer der Bayerischen Räterepublik. Bereits am 7. November 1918 – zwei Tage vor Karl Liebknecht und Philipp Scheidemann in Berlin – hat er in München die Revolution ausgerufen. Nun ist er zurück in seiner Geburtsstadt Berlin, und noch einmal fassen die Revolutionäre Hoffnung. Doch die Jahre der Festungshaft haben Mühsam gezeichnet. Schwach ist sein Wedeln mit der roten Fahne, Mangelernährung hat ihm den Magen ruiniert, die Augen tränen unablässig. Schnell schaffen die Genossen ihn und seine Frau Zenzl zum bereitstehenden Auto, fahren mit ihnen Richtung Hallesches Tor davon. Vielleicht denkt Mühsam auf der Fahrt an die Gedichte und Artikel, die er vor dem Krieg für die hier ansässigen Blätter verfasste. Vielleicht auch daran, dass Theodor Wolff ihm noch immer ein Honorar schuldet. Oder er fragt sich, was nun aus ihm werden soll. Die Revolution jedenfalls ist vorbei, und er weiß das.
Schon bevor die Pandemie die Welt veränderte, schliefen allnächtlich Menschen unter den Hochbahngleisen am Halleschen Tor, den Luftgeschossen am Mehringplatz und zwischen Büschen am Kanal. Vereinzelte und Elende ohne feste Bleibe, denen manchmal von Nachbarinnen geholfen wurde. Ein Kaffee am Morgen. Eine Mahlzeit zur Nacht. Gespräche über Alltägliches. Gegenüber vom U-Bahn-Eingang hatte ein Mann seine Wohnung nachgestellt: Couch, Tisch, Lampe, Bett, Bücherregal. An Weihnachten wurde festlich dekoriert. Leute blieben stehen und rieben sich die Augen. War das echt oder Kunst oder echte Kunst? Selbst die Ordnungsmacht ließ ihn gewähren. Ein Zimmer ohne Wände ist schwer zu räumen. Im Laufe der maskierten Ausnahmezeit zog dieses Leben und Lebenlassen am Halleschen Ufer, die durch die Baustellen begünstigte Unübersichtlichkeit des Platzes immer mehr Menschen im Elend an. Jeden Morgen irren Süchtige durchs Viertel, den Dealern auf ihrer ersten Runde hinterher. Nachts werden Türen aufgebrochen. Und manchmal liegt einer wie tot auf dem kalten Beton der Keller und Treppenhäuser. Das Schwerste ist das Aushalten. Müssen.