Wir, das Ungarn des Westens

Paul B. Preciado

Ausgehend von der Verschärfung des Abtreibungsverbots in Polen sowie Ungarns transfeindlichem Entwurf zur Verfassungsänderung beobachtet Paul Preciado, wie innerhalb europäischer demokratischer Institutionen zunehmend neofaschistische Laboratorien entstehen. Charakteristisch hierfür ist die Figur der Leugnung: ob die Leugnung der Existenz des Klimawandels sowie die von den gleichen Akteur:innen betriebenen Leugnung der Existenz von Gender oder auch der eigenen Kolonialgeschichte. Er plädiert daher für einen Aktivismus, der die Ziele der politischen Ökologie gleichzeitig zu den Projekten der Entpatriachalisierung und der institutionellen und sozialen Dekolonisierung verfolgt.
 

Während das politische Pandemie-Management überall Lethargie verbreitet, finden einige der raffiniertesten und brutalsten Veränderungen des gegenwärtigen autoritären Neoliberalismus statt, nicht weit von uns, auf europäischem Boden. Hunderttausende demonstrieren seit Monaten auf den Straßen von Budapest, Warschau oder Krakau – angesichts einer militarisierten Polizei oft unter Lebensgefahr. Weder das Europäische Parlament noch die Regierungen der verschiedenen europäischen Länder scheinen dem auch nur annähernd so viel Bedeutung beizumessen wie etwa der “terroristischen Gefahr”. Hinter dem Virus-Krieg steht ein anderer, ein Krieg um Geschlecht und “race”. Den demokratischen Diktatoren kommt die Pandemie für ihre “fast laws”, ihre “Express-Gesetze”, gerade recht. Der “politische Ausnahmezustand”, der nach COVID-19 ausgerufen wurde, ermöglicht schnelle Gesetzes-Manöver, für die parlamentarische Zustimmung nicht mehr eingeholt werden muss, eine Monopolisierung der Kommunikation zum Zwecke der Prävention und Verseuchung und Nutzungseinschränkungen des öffentlichen Raums, mit denen Versammlungen und Demonstrationen illegalisiert werden: ein idealer Rahmen zur Durchführung autoritärer Reformen unter scheinbar demokratischen Bedingungen.

Erinnern wir uns in diesem induzierten Schweigen an einige dieser Maßnahmen. Am 22. Oktober 2020 erklärte das polnische Verfassungsgericht den Schwangerschaftsabbruch als illegal und ließ nur für solche Fälle Ausnahmen zu, die äußerst schwer zu beweisen sind, wie Vergewaltigung, Inzest oder unmittelbare Lebensgefahr für die Mutter. Am selben Tag unterzeichneten die Regierungen von 33 Ländern – darunter so offensichtlich politisch gegensätzliche Länder wie die Vereinigten Staaten und die Arabischen Emirate, Ägypten und Polen – die “Genfer Konsenserklärung” mit dem Ziel, normative sexuelle Unterschiede zu naturalisieren, die heterosexuelle Familie als Gründungseinheit der Gesellschaft zu stärken und Abtreibung zu verbieten.

Anstatt zu behaupten, dass Polen und Ungarn nicht zu Europa gehören, sollten wir vielmehr verstehen, dass die neopatriarchale und neorassistische Verschiebung, die mit der europäischen Grenzpolitik von Lesbos begann, im polnischen und ungarischen Parlament aktiv weiterverfolgt wird.

Am 11. November 2020 legten der ungarische Präsident Victor Orban und seine Justizministerin Judit Varga einen Entwurf zur Änderung der ungarischen Verfassung vor, nach dem das Geschlecht unmittelbar bei der Geburt festzustellen ist und in der Folge nicht geändert werden soll. “Wir wollen, dass die Verfassung die Mutter als Frau und den Vater als Mann anerkennt”, so die Justizministerin. Der Gesetzesentwurf zielt also darauf ab, das vom selben Parlament im Mai 2020 bereits verabschiedete Gesetz, nach dem das Personenstandsregister dem “Geschlecht, wie es bei der Geburt durch die Chromosomen bestimmt ist” entsprechen muss, in die Verfassung aufzunehmen. Zudem wird jede Möglichkeit ausgeschlossen, dieses Register später zu ändern. In der Folge wäre jeder Prozess zur Geschlechtsumwandlung illegal. Ein politischer Coup, der das Gesetz vom Mai 2020 von der gesetzgebenden in die verfassungsgebende Sphäre verlagern will, es damit unanfechtbar machen und vor jeder gesellschaftlichen und politischen Debatte absichern soll.

Der ungarische Entwurf zur Verfassungsänderung ist der expliziteste Versuch, hetero-patriarchale Ungleichheiten und Gewalt in einem dreifachen Prozess mit verfassungsrechtlichen Mitteln zu legalisieren: der Festschreibung der sexuellen Differenz als einziger Form der zivilgesellschaftlich und gesetzlich anerkannten Verkörperung, mit der geschlechtliche Selbstbestimmung ausgeschlossen werden soll; zweitens der Naturalisierung der heterosexuellen Familie als einzige Institution, in der die Fortpflanzung legal ist, und schließlich die Kriminalisierung von trans und nicht-binären, queeren sowie homo-parentalen oder trans-parenten Institutionen. Mit diesem Änderungsantrag wird versucht, die sexuelle Staatsbürgerschaft innerhalb eines christlich-theologischen und politischen Rahmens zu definieren. Wie so oft bei zeitgenössischen technopatriarchalen Vorstößen beansprucht der Text “den Schutz von Kindheit und der Rechte des Kindes (das immer als binär und heterosexuell vorgestellt wird) in einer liebevollen und sicheren Umgebung” und reklamiert “die gesunde Entwicklung des Kindes, die vor den Bedrohungen der neuen ideologischen Strömungen der westlichen Welt zu schützen” sei. Die Erziehung sei “in Übereinstimmung mit den Werten zu fördern, die auf Ungarns verfassungsmäßiger Identität und christlicher Kultur beruhen”.

Zu oft hat die politische Ökologie Geschlecht und Sexualität naturalisiert, sie aus dem Bereich der Kritik herausgenommen und stattdessen über das natürliche Geschlecht und die Reproduktion der Nation gesprochen.

Den Entwürfen Polens, Ungarns und der Genfer Konsenserklärung – die beide Länder unterzeichnet haben – ist gemeinsam, die Anerkennung des weiblichen Körpers als eigenständiges politisches und rechtliches Subjekt zu verweigern und die Existenz von intersexuellen und nicht-binären Körpern, denen das männliche oder weibliche Geschlecht bei der Geburt nicht zugeordnet werden kann ebenso zu leugnen wie die Existenz von Formen sexueller, sozialer, reproduktiver und verwandtschaftlicher Beziehungen außerhalb der heterosexuellen Familie. Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass die Reformen, die in diesen Kontexten stattfinden, neue fremdenfeindliche, rassistische, antisemitische und/oder islamfeindliche Regierungsstrategien beinhalten.

Wie ist es möglich, dass es keine nennenswerten innergemeinschaftlichen politischen Reaktionen auf die gewaltsamen Rechts- und Verfassungsreformen gibt, die in diesen Tagen in Polen oder Ungarn stattfinden? Anstatt Polen oder Ungarn als periphere politische Kontexte mit Minderheitenpositionen in Europa zu betrachten, sollten wir sie als echte konterrevolutionäre Laboratorien verstehen, in denen neue neofaschistische Mutationen innerhalb demokratischer Institutionen getestet werden. Anstatt absurderweise zu behaupten, dass Polen und Ungarn nicht zu Europa gehören, sollten wir vielmehr verstehen, dass die neopatriarchale und neorassistische Verschiebung, die mit der europäischen Grenzpolitik von Lesbos begann, im polnischen und ungarischen Parlament aktiv weiterverfolgt wird. Ihr Treiben weist auf unsere mögliche (und schreckliche) Zukunft hin. Potentiell sind wir alle die Ungar:innen des Westens.

Leugnung als Epistemologie der Konterrevolution
Im “Terrestrischen Manifest” behauptet Bruno Latour, dass die politischen Positionen der letzten 50 Jahre nicht verstanden werden können, ohne die “Klimafrage und deren Leugnung ins Zentrum zu rücken.” Latour definiert ‘Klima’ genauer als die ”Beziehungen der Menschen zu ihren materiellen Lebensbedingungen”. Ihm zufolge wird der Großteil der Probleme, in denen wir gefangen sind, genau durch deren Leugnung charakterisiert: in epistemologischer Hinsicht artikulieren sich die reaktionären Kräfte mittels eines Diskurses der “Klima-Leugnung”, der, wie Latour unterstreicht, den Klimawandel ebenso negiert wie seine Beziehung zum historischen Gebrauch fossiler Energien.

Wir übernehmen Bruno Latours Diagnose, allerdings unter der Bedingung, nicht nur von “Klima” zu sprechen, sondern vielmehr von der “klimasomatischen” Frage und deren Leugnung. Bisher hat die politische Ökologie, die zu einer transversalen Kritik ihrer hetero-patriarchalen und rassistischen Voraussetzungen nie in der Lage war, die politischen Geschichte der Körper ebenso wenig berücksichtigt wie den entscheidenden Platz der Politik von Geschlecht und Reproduktion in der politischen Geschichte der Umwelt. Zu oft hat die politische Ökologie Geschlecht und Sexualität naturalisiert, sie aus dem Bereich der Kritik herausgenommen und stattdessen über das natürliche Geschlecht und die Reproduktion der Nation gesprochen. Wie uns die Reformen in Polen und Ungarn sowie die Genfer Erklärung lehren, lässt sich die globale neokonservative Wende nicht verstehen, ohne die zentrale Stellung der Fragen von Gender, Geschlecht, Sexualität und zeitgenössischen Formen des Rassismus sowie deren Leugnung in den neuen politischen Konfigurationen des zeitgenössischen Kapitalismus zu berücksichtigen.

Für die Revolutionshypothese ist es entscheidend zu verstehen, dass Klimaleugner:innen Gender oftmals ebenso leugnen wie die Kolonialgeschichte.

Wenn Latour zurecht darauf hinweist, dass wir spätestens mit den 1970er Jahren in ein “neues Klima-Regime” eingetreten sind, dann können wir hinzufügen, dass wir damit gleichzeitig in ein “neues somatopolitisches Regime” eingetreten sind, welches die Gesamtheit des lebenden Körpers und die sozialen Institutionen der Produktion und Reproduktion betrifft, in die diese lebenden Körper eingeschrieben sind sowie die traditionellen Segmentierungen von Gender, Geschlecht, Sexualität, “race”, Gesundheit und Behinderung. Latours Behauptung, “die neue Universalität ist das Empfinden, dass einem der Boden unter den Füßen wegsackt”, lässt sich von uns weiterführen, dass die neue Universalität darin besteht, zu spüren, dass der lebendige Körper, unser Körper, explodiert.

Es geht jetzt darum, den lebendigen, begehrenden Körper und seine politische Verwaltung in den Mittelpunkt der politischen Ökologie zu stellen. Wenn man Bruno Latours Argumentation folgt und seine Kritik auf das somatopolitische Feld ausweitet, könnte man angesichts der Politik in Polen und Ungarn, Brasilien oder Uganda sagen, dass, die Klimaleugner:innen den Klimawandel und die ökologische Krise und ihre Beziehung zum kapitalistischen Produktionssystem in gleicher Weise leugnen wie die “Gender-Leugner:innen”, die kulturell und politisch konstruierte Dimension von Gender, Geschlechts- und Sexualitätsunterschieden sowie das strukturelle Verhältnis von Geschlecht und sexueller Unterdrückung im hetero-patriarchalen Reproduktionsregime. Ich verwende hier den Begriff “Gender”, weil sich alle Angriffe und Dämonisierungen in den Diskursen der neo-patriarchalischen Konservativen gerade in ihm kristallisieren – wobei “Gender-Theorie” nur in den Phantasien derjenigen als einheitliche Theorie existiert, die sich der Heterogenität feministischer, queerer, trans und nichtbinärer Diskurse und Praktiken nicht bewusst sind. Für Neokonservative ist das Geschlecht für die heteropatriarchale Verwaltung der nationalen Reproduktion das, was das Klima für das kapitalistische Management der Produktion ist: das Wort, das Kritik und die Möglichkeit der Dekonstruktion der Norm verkörpert.  So wie Klimaleugner:innen den Temperaturanstieg leugnen, das Schmelzen der Pole oder die dauerhafte Schädigung der Ozonschicht, so leugnen Gender-Leugner:innen die Existenz von Intersex-Babys (eine von 600 Geburten), die soziale und psychische Realität von trans und nichtbinären Menschen, die Morde an Frauen, trans Personen und Prostituierten. Stattdessen erkennen sie in Homosexualität, Transsexualität und trans und nicht-binären Praktiken psychische Erkrankungen (Verbrechen und Sünden in theologisch-politischen Diskursen) und in homoparentalen oder nicht-binären Familienstrukturen Formen der Störung und sozialer Dysfunktion.

Die Fahrradwege im Zentrum von Paris können durchaus mit häuslicher sexueller Gewalt, mit der institutionellen Einsperrung rassistisch motivierter Minderheiten und mit homophoben Übergriffen koexistieren.

Die “Gender-Leugner:innen” sind oftmals mit den “Kolonial-Leugner:innen” im Bunde und bestreiten den Zusammenhang zwischen dem Aufstieg des europäischen Kapitalismus und der kolonialen Ausplünderung, sie leugnen die Gewalt, die mit den Prozessen der Kolonisierung und der imperialen Expansion Europas zwischen dem 15. und der Mitte des 20. Jahrhunderts  verbunden war sowie das Fortbestehen von institutionellem Rassismus in zeitgenössischen demokratischen Staaten in postkolonialen Kontexten und verteidigen die weiße Vorherrschaft weiterhin entweder implizit (durch Institutionen und Gesetze) oder explizit (durch Diskurs und Repräsentation). Ich verwende den Begriff “kolonial” hier nicht für eine historische Periode, sondern für eine “Rationalität” (Gayatri Spivak), für ein “Wissensregime” (Walter Mignolo), das in postkolonialen Kontexten immer noch existiert.

Für die Revolutionshypothese ist es entscheidend zu verstehen, dass Klimaleugner:innen Gender oftmals ebenso leugnen wie die Kolonialgeschichte. Wir müssen also daran denken, dass Formen ökologischer Extraktion und somatopolitischer Herrschaft heute nicht nur durch die industriellen Technologien realisiert werden, die die Expansion des kolonialen Kapitalismus seit dem 15. Jahrhundert charakterisiert haben, sondern durch Biotechnologien und kybernetische Technologien, die ich in anderen Zusammenhängen als pharmapornografisch bezeichnet habe. Die Revolutionshypothese postuliert, dass es nur durch die Artikulation dieser drei Dimensionen (klimatisch, somatopolitisch und biotechnologisch-kybernetisch) möglich ist, die Krise, die wir durchmachen, zu diagnostizieren und sich notwendige Veränderungen vorstellen zu können. Die Revolutionshypothese mobilisiert die gemeinsamen Kräfte der politischen Ökologie, des Transfeminismus, des Antirassismus und des Kampfes gegen bio-kybernetische Technologien – eine neue kritische Anordnung, die über die Identitätspolitik, den Nationalstaat und die Rhetorik vom liberalen Individuum hinausgeht.

Ein Klimaaktivismus, der nicht gleichzeitig ein Projekt der Entpatriachalisierung und der institutionellen und sozialen Dekolonisierung ist, kann die Unterschiede von Klasse, Sex, Geschlecht und “race” nur vergrößern. Die Fahrradwege im Zentrum von Paris können durchaus mit häuslicher sexueller Gewalt, mit der institutionellen Einsperrung rassistisch motivierter Minderheiten und mit homophoben Übergriffen koexistieren. Der republikanische Feminismus kann gleichzeitig rassistisch und transphob sein. Machismo ist nachhaltiger, wenn er umweltfreundlich ist. Rassismus kann auch grün sein. Polen und Ungarn sind nicht “das Andere”, sondern die dystopische Projektion unseres inversen Spiegels.

Ausgehend von der Verschärfung des Abtreibungsverbots in Polen sowie Ungarns transfeindlichen Entwurf zur Verfassungsänderung beobachtet Paul Preciado wie innerhalb europäischer demokratischer Institutionen zunehmend neofaschistische Laboratorien entstehen. Charakteristisch hierfür ist die Leugnung der Existenz des Klimawandels sowie die von den gleichen Akteur:innen betriebenen Leugnung der Existenz von Gender oder auch der eigenen Kolonialgeschichte. Er plädiert daher für ein Aktivismus, der die Ziele der politischen Ökologie gleichzeitig zu den Projekten der Entpatriachalisierung und der institutionellen und sozialen Dekolonisierung verfolgt.

Dieser Text ist zuerst im Onlinemagazin “Mediapart” unter dem Titel “Nous, les Hongrois de l'Ouest“ erschienen. Aus dem Französischen übersetzt von Stephan Geene.