Vom Virus lernen

Paul B. Preciado

Mitte März erkrankte Paul B. Preciado am Coronavirus. Der Vordenker auf den Gebieten Queer Studies und Philosophie des Körpers schrieb kurz darauf einen Text über das politische Seuchenmanagement von Covid-19. Er diskutiert darin den Begriff der Immunität in seiner politischen und medizinischen Dimension und zeigt auf, wie die über Jahre entwickelten Grenzpolitiken des Ausschlusses nun auf der Ebene des individuellen Körpers zum Einsatz kommen. Dabei konstatiert er eine Kontinuität und Radikalisierung von Foucaults Thesen zur biopolitischen Überwachung in der Disziplinargesellschaft im Umgang mit vergangenen Epidemien. Schließlich plädiert er für Heilung durch eine gewählte statt der derzeitigen erzwungenen Mutation­ – einer politischen Transformation als Kollektiv, das für ein neues Gleichgewicht in der Gemeinschaft aller Lebewesen kämpft. 

Wäre Michel Foucault nicht 1984 an Aids gestorben, sondern hätte die Erfindung der Dreifachtherapie erlebt, wäre er heute vielleicht noch am Leben und mittlerweile 93 Jahre alt. Würde er sich in seiner Wohnung in der Rue de Vaugirard einsperren lassen? Der erste Philosoph, der den Folgen der vom HI-Virus ausgelösten Immunschwächekrankheit erlag, hat uns eine Reihe von Begriffen hinterlassen, die helfen können, über das politische Seuchenmanagement in Zeiten des Coronavirus nachzudenken, Begriffe, die inmitten der ganzen Panik und Desinformation so nützlich sind wie eine gute Denkschutzmaske.

Im Zentrum aller Politik steht der lebende (also sterbliche) Körper – das ist das Wichtigste, was Foucault uns gelehrt hat. Keine Politik, die nicht Politik der Körper wäre. Der Körper aber ist für Foucault kein biologischer Organismus, den es schon gibt, bevor Macht über ihn ausgeübt wird. Es ist vielmehr Aufgabe des politischen Handelns selbst, den Körper erst herzustellen, ihn arbeiten zu lassen, seine Produktions- und Reproduktionsweisen festzulegen und die Diskursmodi vorzuzeichnen, in denen dieser Körper sich selbst fiktionalisiert, um schließlich “ich” sagen zu können. Foucaults gesamtes Werk kann als historische Analyse der unterschiedlichen Machttechniken begriffen werden, die das Leben und den Tod der Bevölkerung verwalten. 1975, als “Überwachen und Strafen”, und 1976, als der erste Band der “Geschichte der Sexualität” erscheint, bedient Foucault sich des Begriffs “Biopolitik”, um die Beziehung zu fassen, die der Staat in der Moderne zum Gesellschaftskörper unterhält. Er beschreibt den Übergang von dem, was er eine “souveräne Gesellschaft” nennt, die Souveränität im Zuge einer Ritualisierung des Todes definiert, zu einer “Disziplinargesellschaft”, die das Leben der Bevölkerung nach Maßgabe des nationalen Interesses verwaltet und optimiert. Die biopolitischen Regierungstechniken haben sich Foucault zufolge wie ein Machtgeflecht ausgebreitet, das über die Sphäre des Rechts und der Bestrafung hinausgreift, um zu einer horizontalen, krakenhaften Kraft zu werden, die das gesamte Staatsgebiet überzieht und am Ende den individuellen Körper selbst durchdringt.

Gemeinschaft, “communitas”, und Immunität haben eine gemeinsame Wurzel.

Während und nach der Aidskrise haben zahlreiche Autoren Foucaults Hypothesen durch die Erkundung des Verhältnisses von Biopolitik und Immunität erweitert und radikalisiert. Der italienische Philosoph Roberto Esposito ging den Beziehungen nach zwischen dem politischen Begriff der “Gemeinschaft” auf der einen und dem biomedizinischen und immunologischen Begriff der “Immunität” auf der anderen Seite. Gemeinschaft, communitas, und Immunität haben eine gemeinsame Wurzel. Das lateinische Wort munus bezeichnet die Steuer oder Abgabe (Schuldigkeit, Gesetz, Verpflichtung, aber auch Gabe), die entrichten muss, wer leben oder Teil der Gemeinschaft sein will. Die Gemeinschaft ist eine cum (mit) munus: eine Gruppe von Menschen, geeint durch ein Gesetz, eine gemeinsame Verpflichtung, aber auch durch eine Gabe, durch etwas, das keinen Preis hat. Das Substantiv immunitas ist ein privativer, durch die Verneinung von munus gebildeter Begriff. Im römischen Recht war Immunität eine Freistellung, ein Privileg, das jemanden von den Verpflichtungen und Aufgaben entband, denen alle Übrigen unterworfen waren. Der Freigestellte war “immunisiert”, während démuni (französisch für beraubt, hilflos, mittellos) derjenige war, dem alle Vorrechte des Gemeinschaftslebens abgesprochen wurden. 

Jede Biopolitik ist, wie Roberto Esposito unterstreicht, immunologisch.  Sie impliziert eine Definition der Gemeinschaft und eine Hierarchie zwischen denen, die von Abgaben oder Gaben befreit sind (als immun gelten), und denen, die von der Gemeinschaft als potenziell gefährlich betrachtet und in einem Akt des Immunschutzes ausgeschlossen werden (den démunis). Das ist das Paradox der Biopolitik: In jedem Schutzakt steckt eine immunitäre Definition der Gemeinschaft, in deren Namen es wiederum gestattet wird, einen Teil dieser Gemeinschaft der Idee ihrer Souveränität zum Opfer zu bringen. Der Ausnahmezustand ist die Normalisierung dieser unerträglichen Paradoxie.

Mit den Entdeckungen von Mikrobiologen wie Louis Pasteur und Robert Koch ist der Begriff der Immunität ab dem späten 19. Jahrhundert aus der Rechtssphäre herausgetreten und hat eine medizinische Bedeutung angenommen. Das als freier und unabhängiger Körper verstandene moderne Individuum ist nicht allein die Utopie der liberalen Ökonomie, sondern auch der Standard der biopolitischen Immunität. Die liberalen und patriarchal-kolonialistischen europäischen Staaten des 19. Jahrhunderts konstruieren das Ideal des modernen Individuums, das nicht allein als freier (männlicher, weißer, heterosexueller) Wirtschaftsakteur, sondern auch als immuner, radikal abgesonderter, der Gemeinschaft nichts schuldender Körper gilt. Die Weise, in der Nazideutschland einen Teil der eigenen Bevölkerung (Juden, aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte) als Körper charakterisiert hat, durch welche die Souveränität der arischen Gemeinschaft bedroht wird, ist für Esposito ein paradigmatisches Beispiel für die Gefahren des biopolitischen Immunitätsmanagements. Dieses immunologische Gesellschaftsverständnis ging jedoch nicht mit dem Nationalsozialismus unter. Es hat, ganz im Gegenteil, in den Vereinigten Staaten und Europa überlebt, wo es dem politischen Umgang mit rassifizierten Minderheiten und Migrantenpopulationen als Rechtfertigung dient. Es ist diese immunitäre Politik, von der die gegenwärtige europäische Wirtschaftsgemeinschaft, der Mythos von Schengen und die von Frontex aufgebotenen Gewalttechniken durchdrungen sind.

Die an der Princeton University lehrende Anthropologin Emily Martin hat 1994 in “Flexible Bodies” die Beziehung von Immunität und Politik in der amerikanischen Gesellschaft während der Polio- und der Aidskrise erforscht. Martins Schlussfolgerungen lassen sich für die Analyse der gegenwärtigen Krise fruchtbar machen. Körperliche Immunität, sagt Martin, ist kein biologisches, von kulturellen und politischen Variablen unabhängiges Faktum. Im Gegenteil: Was wir unter Immunität verstehen, wird anhand sozialer und politischer Kriterien kollektiv konstruiert, die über Souveränität oder Ausschließung, Schutz oder Stigmatisierung, Leben oder Tod entscheiden.

Lange bevor Covid-19 auftauchte, waren wir bereits in einen planetarischen Veränderungsprozess eingetreten.

Nehmen Sie etwa die Syphilis. Zu einem ersten großen Ausbruch auf europäischem Boden kam es 1494/95 während der Belagerung Neapels durch französische Truppen unter Karl VIII. Das europäische Kolonialunternehmen war gerade erst angelaufen. Die Syphilis war so etwas wie ein Startschuss für die koloniale Zerstörung und die rassifizierten Politiken, die folgen sollten. “Französische Krankheit” nannten die Engländer die Syphilis, während sie bei den Franzosen “Neapolitanische Krankheit” hieß und die Neapolitaner behaupteten, sie sei amerikanischer Herkunft: Die Siedler hätten sich bei den Indianern angesteckt und die Seuche nach Italien gebracht. Das Virus, sagt Derrida, ist stets der Fremde, der Andere, der Ausländer. Als sexuell übertragbare Krankheit brachte die Syphilis vom 16. bis zum 19. Jahrhundert die Formen der Unterdrückung und sozialen Ausschließung zum Vorschein, von denen die patriarchale und koloniale Moderne beherrscht wurde: Die Besessenheit von der Idee der Rassenreinheit, das Verbot sogenannter “Mischehen” zwischen Angehörigen unterschiedlicher Klassen und “Rassen” sowie die vielfältigen Restriktionen, denen sexuelle und außereheliche Beziehungen unterlagen. Die Utopie der Gemeinschaft und das Immunitätsmodell der Syphilisgesellschaft ist der weiße bürgerliche Körper, dessen Sexualität auf das Eheleben als Kernzone der Fortpflanzung des Nationalkörpers begrenzt ist. Der Körper aber, der während der Syphilisepidemie alle verfemten politischen Signifikanten in sich vereint, ist der Körper der Prostituierten. Als aktive und häufig rassifizierte Frau, als Körper außerhalb der Gesetze des Haushaltes und der Ehe, der die Sexualität zu seinem Produktionsmittel gemacht hat, wurde die Sexarbeiterin als Hauptüberträgerin des Virus ins Rampenlicht gestellt, kontrolliert und stigmatisiert. Aber nicht die Unterdrückung der Prostitution oder die Einschließung von Prostituierten in Staatsbordelle, wie Restif de la Bretonne sie sich ausgemalt hatte, geboten der Syphilis schließlich Einhalt. Im Gegenteil. Die Internierung der Prostituierten machte sie bloß noch anfälliger für die Krankheit. Es war die Entdeckung der Antibiotika und vor allem, 1928, des Penicillins, die der Syphilis den Garaus machte, aber auch ein Jahrzehnt tief greifender Veränderungen in der europäischen Sexualpolitik, die sich dem Aufbegehren der Dekolonisierungsbewegungen, der Einführung des Wahlrechts für weiße Frauen, den ersten Ansätzen zur Entkriminalisierung der Homosexualität und einer relativen Liberalisierung der Ethik der heterosexuellen Ehe verdankten. 

Ein halbes Jahrhundert später wird Aids für die neoliberale heteronormative Gesellschaft des 20. Jahrhunderts das sein, was die Syphilis für die Industrie- und Kolonialgesellschaft des 15. Jahrhunderts war. Die ersten Fälle traten 1981 auf, in ebendem Augenblick, da die Homosexualität nach Jahrzehnten sozialer Verfolgung und Diskriminierung nicht länger als psychische Erkrankung galt. In ihrer ersten Phase traf die Epidemie vor allem die seinerzeit so genannten “4 H”: Homosexuelle, Huren, Hämophile, Heroinabhängige. Aids hat das von der Syphilis gesponnene Netz der Körperkontrolle und die Überwachungstechniken erneuert, die nicht nur von der Erfindung des Penicillin, sondern auch von den Dekolonisierungs-, Frauen- und Homosexuellenbewegungen der sechziger und siebziger Jahre abgebaut worden waren. Die Unterdrückung der Homosexualität aber hat, wie die der Prostitution in der Syphiliskrise, die Zahl der Todesfälle nur erhöht. Was Aids langsam in eine chronische Krankheit verwandelt hat, sind die Depathologisierung der Homosexualität, die pharmakologische Selbständigkeit des Südens, die sexuelle Emanzipation der Frauen, ihr Recht, Sexualpraktiken ohne Präservativ abzulehnen, und schließlich der Zugang der betroffenen Gruppen zur Dreifachtherapie, unabhängig von ihrer sozialen Schicht und ihrer Zugehörigkeit zu in unterschiedlichem Ausmaß rassifizierten Gruppen. Das Gemeinschafts-/Immunitätsmodell von Aids ist an das Phantasma der souveränen männlichen Sexualität als unverhandelbarem Recht auf Penetration gebunden, während penetrierte Körper (in den Varianten der Homosexualität, der Weiblichkeit, der Analität) als solche gelten, denen es an Souveränität mangelt.

Pharmapornografisch nenne ich die Spielart der Verwaltung und Produktion des Körpers, aber auch der sexuellen Subjektivität innerhalb dieser neuen politischen Konfiguration.

Kommen wir auf die aktuelle Situation zurück. Lange bevor Covid-19 auftauchte, waren wir bereits in einen planetarischen Veränderungsprozess eingetreten. Schon vor dem Virus machten wir einen gesellschaftlichen und politischen Wandel durch, der ebenso tiefgreifend war wie der jener Gesellschaften, in denen einst die Syphilis auf den Plan trat. Im 15. Jahrhundert gingen wir mit der Erfindung der Druckerpresse und der Expansion des Kolonialkapitalismus von einer Oral- zu einer Schriftkultur über, von einer feudalen zu einer industriell-sklavenhalterischen Produktionsform sowie von einer theokratischen zu einer Gesellschaft, die von wissenschaftlichen Übereinkünften regiert wird, in denen die Begriffe des Geschlechts, der “Rasse“ und der Sexualität zu bio- und nekropolitischen Mechanismen der Bevölkerungskontrolle wurden. Heute erleben wir den Übergang von einer schriftlichen zu einer cyberoralen und von einer organischen zu einer digitalen Gesellschaft, aber auch von einer industriellen zu einer immateriellen Ökonomie, von einer Form der disziplinarischen und architektonischen Kontrolle zu mikroprothetischen und medial-kybernetischen Kontrollformen. Pharmapornografisch nenne ich diese Spielart der Verwaltung und Produktion des Körpers, aber auch der sexuellen Subjektivität innerhalb dieser neuen politischen Konfiguration, weil die Körper und die heutige Subjektivität nicht länger allein durch Disziplinarinstitutionen (Schule, Fabrik, Kaserne, Krankenhaus etc.) reguliert werden, sondern vor allem durch ein Ensemble biomolekularer, in den Körper eindringender Techniken, durch Mikroprothesen und digitale Überwachungstechnologien. Auf dem Gebiet der Sexualität sind die pharmakologischen Bewusstseins- und Verhaltensänderungen, der massenhafte Konsum von Antidepressiva und Angstlösern, die Globalisierung der Verhütungspille sowie die Entwicklung von Dreifachtherapien zur Vorbeugung gegen Aids oder der Viagrakonsum nur einige Aspekte dieser biotechnologischen Verwaltung. Die planetarische Ausbreitung des Internets, die Verallgemeinerung der Nutzung mobiler Computertechnologien, der Einsatz künstlicher Intelligenz, der Echtzeit-Austausch von Informationen und die satellitengestützte globale Computerüberwachung per GPS sind weitere Hinweise auf dieses neue semiotechnische Dispositiv. Pornografisch nenne ich diese Steuerungstechniken, weil sie nicht länger auf der Unterdrückung und dem Verbot von (masturbatorischer und anderer) Sexualität, sondern auf Konsumanreizen und der Dauerproduktion einer reglementierten und quantifizierbaren Lust beruhen. Je mehr wir konsumieren und je gesünder wir sind, desto effektiver werden wir kontrolliert. 

Die europäische Gesellschaft hat kollektiv beschlossen, sich die Gestalt einer völlig immunisierten, gegenüber dem Osten wie dem Süden abgeschotteten Gemeinschaft zu geben.

Der derzeitige Wandel könnte auch den Übergang markieren von einem patriarchal-kolonialen extraktivistischen Regime, von einer anthropozentrischen Gesellschaft, in der ein kleiner Teil der menschlichen Gemeinschaft sich das Recht zu einer Politik der verallgemeinerten Plünderung anmaßt, zu einer Gesellschaft, die in der Lage wäre, Energie und Souveränität umzuverteilen. Im Zentrum der Auseinandersetzung während und nach dieser Krise wird dabei die Frage stehen, welche Leben wir retten wollen. Im Kontext dieses Wandels, der auch die Art betrifft, wie wir die Gemeinschaft (eine Gemeinschaft, die heute, da Segmentierung und Abschottung nicht länger möglich sind, die ganze Erde umfasst) und die Immunität verstehen, tritt das Virus auf den Plan, und dieser Kontext bestimmt auch die politische Strategie zur Bekämpfung von Covid-19. 

Immunität und Grenzpolitik

Gegenüber der Idee der Bewegungsfreiheit, die im Neoliberalismus der Thatcher-Ära zumindest zum Schein geherrscht hatte, sind die Regierungspolitiken der letzten zwanzig Jahre, seit der Zerstörung der Twin Towers, durch eine identitäre und neokoloniale Neudefinition der Nationalstaaten gekennzeichnet. Mit ihr geht auch eine Rückkehr zur Idee der physischen Grenze als Bedingung der Wiederherstellung nationaler Identität und politischer Souveränität einher. Israel, die Vereinigten Staaten, Russland, die Türkei und die Europäische Union haben neue Grenzen gezogen, die zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht bloß überwacht, sondern durch Mauern und Dämme befestigt werden, um sie nicht nur mit biopolitischen, sondern mit nekropolitischen Maßnahmen, mit Ausschließungs- und Todestechniken zu verteidigen.

Die europäische Gesellschaft hat kollektiv beschlossen, sich die Gestalt einer völlig immunisierten, gegenüber dem Osten wie dem Süden abgeschotteten Gemeinschaft zu geben, obwohl diese Regionen ihre Vorratsspeicher für Energieressourcen und zu Niedriglöhnen produzierte Konsumgüter sind. Die Konstruktion dieser politischen Immunität hat die Gestalt eines neosouveränen Wahngebildes angenommen: Europa hat die Grenze in Bulgarien und Griechenland dichtgemacht und auf den nahe der türkischen Küste gelegenen Inseln, aber auch in Ceuta, in Melilla, in Calais, auf Lampedusa die größten Freiluftgefängnisse der Geschichte errichtet. Wir stehen vor dem paradoxen Befund, dass die Zerstörung Europas bei dieser Konstruktion einer immunen, im Inneren offenen, gegenüber Fremden und Migranten jedoch verschlossenen Europäischen Union ihren Ausgang genommen hat.

Foucault verglich den Umgang mit der Lepra mit dem mit der Pest und kam zu dem Schluss, die Unterschiede seien typisch für die Ausbreitung verräumlichter Machttechniken in der Moderne.

In den Strategien gegen Covid-19 wird jetzt im planetarischen Maßstab ein neues Verständnis von Souveränität erprobt, und zwar in einem Kontext, in dem die sexuelle und rassifizierte Identität (bis heute Achsen der politischen Segmentierung der patriarchal-kolonialen Welt) in Auflösung begriffen ist. Covid-19 hat die Grenzpolitiken, die früher auf nationalem oder auf dem supranationalen Territorium Europas zum Einsatz kamen, auf die Ebene des individuellen Organismus verlagert. Der Körper, dein individueller Körper, als Lebensraum und als Machtgefüge, als Zentrum der Produktion und des Energieverbrauchs ist zu einem neuen Hoheitsgebiet geworden, auf dem nun gewaltsame Grenzpolitiken, die wir seit Jahren gegenüber “den Anderen” entwickelt und erprobt haben, in Gestalt von Maßnahmen der Abschottung und des Kriegs gegen das Virus zum Einsatz kommen. Die neue nekropolitische Grenze hat sich von den griechischen Küsten an die heimische Wohnungstür verlagert. Lesbos beginnt jetzt auf deiner Schwelle. Und die Grenze hört nicht auf, sich um dich zusammenziehen, sie rückt dir immer enger auf den Leib. Calais springt dir jetzt ins Gesicht. Die neue Grenze ist die Maske. Die Luft, die du atmest, soll jetzt dir allein gehören. Die neue Grenze ist deine Epidermis. Das neue Lampedusa ist deine Haut.

Die Grenzpolitiken, die strengen Maßnahmen der Einsperrung und Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die wir in diesen letzten Jahren gegen Migranten und Flüchtlinge ergriffen haben, die uns als virale Bedrohung der Gemeinschaft galten, werden nun auf nationalem Hoheitsgebiet reproduziert, auf die Gesamtbevölkerung ausgeweitet und in den individuellen Körper eingeschrieben. Jahrelang haben wir Migranten und Flüchtlinge in Auffanglager gesperrt, in rechtsfreie Vorhöllen, in Dauerwartesäle, in denen sie jeder Staatsbürgerschaft beraubt sind. Jetzt sind wir es, die in den Auffanglagern leben, zu denen unsere eigenen Häuser geworden sind.

Biopolitik im pharmapornografischen Zeitalter

Brechen Epidemien aus, wird der Ausnahmezustand verhängt, werden drastische Maßnahmen angeordnet. Das macht Epidemien zu Laboratorien für soziale Innovationen, bieten sie doch die Gelegenheit, Körpertechniken und Technologien der Macht im großen Maßstab neu zu konfigurieren. Foucault verglich den Umgang mit der Lepra mit dem mit der Pest und kam zu dem Schluss, die Unterschiede seien typisch für die Ausbreitung verräumlichter Machttechniken in der Moderne. Wo die Lepra mit strikten nekropolitischen Maßnahmen und einer Exklusion der Leprösen bekämpft wurde, die sie, wenn nicht zum Tode, so doch zu einem Leben außerhalb der Gemeinschaft verurteilten, wurden in der Reaktion auf die Pest neue Formen der Disziplinierung und die “exklusive Inklusion“ erfunden: die strenge Segmentierung der Städte und die Einsperrung der einzelnen Körper in ihrer jeweiligen Unterkunft.

Das typische Subjekt technopatriarchaler neoliberaler Gesellschaften, wie es im Zuge der Coronakrise fabriziert wird, hat keine Haut, ist unberührbar, hat keine Hände.

Die Strategien, auf die Länder im Kampf gegen die Ausbreitung von Covid-19 setzen, lassen sich zwei radikal unterschiedlichen Typen biopolitischer Technologien zuordnen. Bei der ersten, die vor allem in Italien, Spanien, Frankreich und anderen europäischen Ländern verfolgt wird, ergreift man strikte disziplinarische Maßnahmen, die sich in vielerlei Hinsicht nicht wesentlich von jenen unterscheiden, die im Fall der Pest zur Anwendung kamen: Man sperrt die Bevölkerung zu Hause ein. Liest man das der Bekämpfung der Pest in Europa gewidmete Kapitel in “Überwachen und Strafen”, wird schnell deutlich, dass sich die französische Politik des Managements von Epidemien seither nicht groß verändert hat. Wir stoßen auf eine Logik der architektonischen Grenze, infizierte Personen werden in Enklaven wie Krankenhäusern und vergleichbaren Institutionen behandelt. Ob diese Technik wirklich effektiv ist, lässt sich zum Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, noch nicht endgültig beurteilen.

Die andere Strategie, auf die man unter anderem in Südkorea, Taiwan, Hongkong und Japan setzt, lässt die disziplinarischen und architektonischen Kontrolltechniken der Moderne hinter sich und bringt pharmapornografische Techniken in Anschlag: Hier liegt der Fokus auf dem Erkennen der individuellen Viruslast durch das Hochfahren der Testkapazitäten sowie auf einer permanenten und strengen digitalen Überwachung der Patienten mithilfe ihrer mobilen digitalen Geräte. Mobiltelefone und Kreditkarten werden zu Werkzeugen, die es erlauben, die individuellen Bewegungen potenzieller Träger des Virus nachzuverfolgen. Wir brauchen keine biometrischen Armbänder. Ein besseres Armband als das Mobiltelefon lässt sich gar nicht denken; selbst wenn sie schlafen, trennen sich die Menschen nicht von ihren Geräten. Temperatur und Bewegungen individueller Körper werden mithilfe mobiler Technologien überwacht, per GPS an die Polizei übermittelt und in Echtzeit vom digitalen Auge eines cyberautoritären Staates beobachtet. Die Gesellschaft wird zu einer Gemeinschaft der User, Souveränität bedeutet vor allem digitale Durchleuchtung und den Einsatz von Big Data. Diese Maßnahmen der politischen Immunisierung sind dabei alles andere als neu, sie kamen zuvor unter anderem bei der Fahndung nach mutmaßlichen Terroristen zur Anwendung, allerdings nicht nur dort: In Taiwan beispielsweise können die Behörden schon seit Anfang der zehner Jahre auf die Kontakte der Nutzer von Dating-Apps zugreifen. Die Maßnahmen sollen der Aids-“Prävention” und der Bekämpfung der Internetprostitution dienen. Covid-19 verschafft diesen staatlichen Praktiken der Bioüberwachung und der digitalen Kontrolle nun zusätzlich Legitimität. Sie werden ausgedehnt und standardisiert, da sie als “notwendig” gelten, um ein gewisses Gefühl der Immunität aufrechtzuerhalten. Trotzdem denken dieselben Staaten, die auf diese extremen digitalen Überwachungsmaßnahmen setzen, bislang nicht darüber nach, den Handel mit und den Verzehr wildlebender Tiere zu verbieten oder die industrielle Produktion von Geflügel sowie Säugetieren und ihre CO2-Emissionen zu reduzieren. Gestärkt wurde hier also weniger die Immunität des sozialen Körpers als vielmehr die Toleranz der Bürger gegenüber der kybernetischen Kontrolle durch den Staat und die Unternehmen.

Im Umgang mit Covid-19 als Form des Managements des Lebens und des Todes zeichnen sich die Konturen einer neuen Subjektivität ab. Es sind eine neue Utopie der immunitären Gemeinschaft und neue Möglichkeiten, die Masse der menschlichen Körper zu kontrollieren, was nach der Krise erfunden worden sein wird. Das typische Subjekt technopatriarchaler neoliberaler Gesellschaften, wie es im Zuge der Coronakrise fabriziert wird, hat keine Haut, ist unberührbar, hat keine Hände. Als digitaler Konsumenten und Kreditkartenbesitzer tauscht es keine physischen Güter aus und bezahlt nicht länger mit Bargeld. Dieses Subjekt hat keine Lippen und keine Zunge. Es kommuniziert nicht direkt, sondern schickt eine Sprachnachricht. Es trifft sich mit niemand und schließt sich nicht mit anderen zusammen. Es ist in einem radikalen Sinn in-dividuell. Es hat kein Gesicht, es trägt eine Maske. Um existieren zu können, verbirgt es seinen organischen Körper hinter einer Vielzahl semiotechnischer Vermittlungsinstanzen, hinter einer Reihe kybernetischer Prothesen, die obendrein als Masken fungieren: E-Mail-Adressen, Facebook-, Instragram- oder Skype-Accounts. Es ist kein physischer Akteur, sondern ein Teleproduzent, ein Code, Pixel, Bankkonto, ein Port mit einem Namen, eine Adresse, an die Amazon Bestellungen verschicken kann.

Der häusliche Raum ist von nun an ein Punkt im Raum der Cyberüberwachung.

Zugleich hat Covid-19 im Herzen des pharmapornografischen Managements eine Kartografie unproduktiver Zonen des sozialen Körpers sichtbar gemacht, die von Personen bewohnt werden, die im neuen Regime der technodigitalen Produktion als überflüssig gelten. Diese Zonen lagen bereits zuvor jenseits der biopolitischen Grenze, und ihre Bewohner sind nun doppelt verwundbar. Das gilt für alte Menschen, die sich nicht mehr in technokybernetische Subjekte transformieren können, insbesondere für die unter ihnen, die in jenen Institutionen der Todesindustrie untergebracht sind, die man als Altersheime bezeichnet. Aber auch für Personen, die als funktional oder kognitiv eingeschränkt gelten und die in jenen Institutionen der Todesindustrie untergebracht sind, die man als Behindertenheime bezeichnet. Und für die kriminalisierten Körper, die man in jenen Institutionen der Todesindustrie eingesperrt hat, die man als Gefängnisse bezeichnet – also für die Bewohner all jener Paralleluniversen, die vollkommen außerhalb der Internetblase liegen. Die Institutionen der Einschließung, und dazu zählen auch die Krankenhäuser, sind von nun an, so scheint es, nicht länger Enklaven, die der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und der Disziplin dienen, sondern die schwächsten Glieder einer in Mutation befindlichen biopolitischen Kette.

Das weiche Gefängnis: Willkommen in Ihrer persönlichen Telerepublik

Eine der fundamentalen biopolitischen Veränderungen, die sich im Rahmen der pharmapornografischen Techniken abzeichnen, die gegen Covid-19 in Stellung gebracht werden, besteht darin, dass nicht länger die traditionellen Institutionen der Einschließung und der Normalisierung die Zentren der Produktion, des Konsums und der politischen Kontrolle zu sein scheinen, sondern das persönliche Domizil, der einzelne Haushalt, das Privathaus. Anders als im Fall der Pest ist das Zuhause nicht allein der Ort, an dem der Körper eingeschlossen wird, es wird überdies zum Zentrum des Telekonsums und der Teleproduktion. Der häusliche Raum ist von nun an ein Punkt im Raum der Cyberüberwachung, ein Ort, der sich auf einer Google-Karte identifizieren lässt, ein Bild, das von einer Drohne erkannt wird.

Vor einigen Jahren habe ich mich intensiver mit Hugh Hefners Playboy Mansions beschäftigt, seinem neogotischen Haus in Chicago und dem Anwesen in Los Angeles, in dem der “Playboy”-Gründer von 1974 bis zu seinem Tod 2014 lebte. Ich interessierte mich dafür, weil diese Orte schon während des Kalten Kriegs als Laboratorien fungierten, in denen neue Dispositive der pharmapornografischen Kontrolle des Körpers und der Sexualität entwickelt wurden. Diese Dispositive dehnten sich ab dem späten 20. Jahrhundert im Westen aus und erfassen nun mit der Coronakrise die gesamte Weltbevölkerung. Was mich während meiner Recherchen über diesen Playboy besonders verblüffte, war der Umstand, dass einer der reichsten Männer der Welt knapp vier Jahrzehnte lang nicht vor die Tür ging. Er blieb fast immer daheim, trug dort ausschließlich Pyjamas, Bademäntel und Pantoffeln, trank Cola und verzehrte Butterfinger-Riegel. Hefner leitete das wichtigste Magazin der USA, ohne sein Haus, ja ohne sein Bett zu verlassen. Ausgestattet mit einer Videokamera, einer Standleitung und einem Radio, auf dem stets ein Musiksender lief, war Hefners Bett eine wahrhaft multimediale Produktionsplattform.

Sein Biograf Steven Watts hat Hefner als “freiwilligen Eremiten in seinem eigenen Paradies” bezeichnet. Hefner war ein Fan aller erdenklichen audiovisuellen Archivierungsdispositive; als es noch keine Mobiltelefone, kein Facebook und kein Whatsapp gab, verschickte er jeden Tag mehr als zwanzig Tonband- und Videokassetten mit Ratschlägen und Botschaften, von Liveinterviews bis zu Anweisungen für die Gestaltung des Hefts. Während es einerseits durch Holzpaneele und dichte Gardinen abgeschirmt war, war es andererseits von Tausenden Kabeln durchzogen und randvoll mit Gerätschaften, die damals als letzter Schrei der Kommunikationstechnologie galten (uns heute jedoch so archaisch vorkommen wie ein Tamtam), kurz: Das Playboy Mansion war zugleich vollkommen opak und total transparent. Überall in dem Anwesen, das er zusammen mit einem Dutzend Playmates bewohnte, hatte Hefner Videokameras installiert, von seinem Kontrollzentrum aus konnte er in jedes einzelne Zimmer schalten – bisweilen landete das Filmmaterial sogar auf den Seiten des Magazins.

Die biopolitischen Maßnahmen zur Bekämpfung der weiteren Ausbreitung des Coronavirus haben aus jedem von uns einen mehr oder weniger Playboy-haften horizontalen Arbeiter gemacht.

Die schleichende biopolitische Revolution, an deren Spitze dieser Playboy stand, lief nicht nur auf die Verwandlung der heterosexuellen Pornografie in eine Massenkultur, sondern zugleich auf eine Infragestellung jener Trennung hinaus, die der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts zugrunde gelegen hatte: der klaren Scheidung der Sphären von Produktion und Reproduktion, von Fabrik und Privatwohnung und damit auch der patriarchalen Unterscheidung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit. Der Playboy unterlief diese Trennung, indem er die Errichtung einer neuen Enklave des Lebens vorschlug: die total mit den neuen Kommunikationstechnologien vernetzte Junggesellenwohnung, die der semiotechnische Produzent weder zum Arbeiten noch zum Liebemachen verlassen musste – Aktivitäten, die zwischenzeitlich ohnehin ununterscheidbar geworden waren. Sein rundes Bett war nun alles auf einmal: Schreibtisch, Chefbüro, Fotokulisse, Ort sexueller Begegnungen und Fernsehstudio, in dem die berühmte Show “Playboy After Dark” aufgezeichnet werden konnte. Der Playboy nahm damit den Diskurs über Telearbeit, Homeoffice und immaterielle Produktion vorweg, Dinge, die heute im Zusammenhang mit der Coronakrise zur nationalen Pflicht erhoben werden. Hefner nannte diesen neuen sozialen Produzenten den “horizontalen Arbeiter”. Damit setzte der Playboy einen Vektor der sozialen Innovation in Gang, der die Erosion (und schließlich Auslöschung) der Distanz zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Produktion und Sex ankündigte. Das Leben des Playboys, permanent gefilmt und über Magazine und Fernsehsendungen verbreitet, war vollkommen öffentlich, obwohl er nicht einmal sein Bett verließ. Zugleich brachte der Playboy die Differenz zwischen männlich und weiblich ins Wanken, indem er aus dem neuen multimedialen Operateur einen “Hausmann” machte, eine Figur, die damals noch ein Oxymoron darstellte. Hefners Biograf erinnert uns freilich auch daran, dass diese abgeschiedene Produktivität ohne chemische Hilfsmittel nicht zu haben war: Der “Playboy”-Chef konsumierte permanent Dexedrine, ein Amphetamin, das alle Müdigkeit eliminiert und Schlaf überflüssig macht. Wir stehen also vor dem Paradox, dass der Mann, der nie das Bett verließ, auch nie schlief. Das Bett als Schaltzentrale der multimedialen Operation war eine pharmapornografische Zelle. Das funktionierte allerdings nur dank der Antibabypille, dank Medikamenten, die ein dauerhaft hohes Produktionsniveau möglich machten, und dank leistungsfähiger Datenleitungen, über die sich der permanente Fluss semiotischer Codes aufrechterhalten ließ, die letztlich die einzige Nahrung waren, die der Playboy überhaupt noch zu sich nahm.

Kommt Ihnen das Ganze bekannt vor? Ähnelt all das nicht auf beklemmende Weise Ihrer abgesonderten Existenz? Erinnern wir uns an die Parolen von Präsident Emmanuel Macron: Wir befinden uns im Krieg, bleiben Sie bitte daheim, arbeiten Sie vom Homeoffice aus usw. usf. Die biopolitischen Maßnahmen, die zur Bekämpfung der weiteren Ausbreitung des Coronavirus angeordnet wurden, haben aus jedem von uns einen mehr oder weniger Playboy-haften horizontalen Arbeiter gemacht. Dabei sind unsere Haushalte heute tausendmal durchtechnisierter als Hefners rotierendes Bett im Jahr 1968. Die Heimarbeit und das Dispositiv der Telekontrolle werden von nun an Hand in Hand gehen.

Wollen wir uns während der Mutationen des Virus der Unterwerfung widersetzen, müssen wir unsererseits mutieren.

In “Überwachen und Strafen” hat Foucault die religiösen Zellen der Einpersonen-Einschließung als Vektoren analysiert, die dazu dienten, den Übergang von den souveränen und blutigen Techniken zur Kontrolle des Körpers und der Subjektivität, wie sie bis zum 18. Jahrhundert gebräuchlich waren, zur Architektur und den disziplinarischen Dispositiven der Einschließung zu modellieren, die sich nun als neue Techniken der Verwaltung der Bevölkerung insgesamt etablierten. Bei diesen Disziplinararchitekturen handelte es sich um säkularisierte Varianten jener Klosterzellen, in denen das moderne Individuum als in einem Körper eingeschlossene Seele und als Leser fabriziert wurde, der in der Lage war, die Anweisungen der Regierung zu entziffern. Nach einem Besuch bei Hefner notierte der Schriftsteller Tom Wolfe, dieser lebe in einem Gefängnis, das so weich sei wie ein Artischockenherz. Man könnte demnach sagen, dass das Playboy Mansion und Hefners rotierendes Bett, Objekte des popkulturellen Konsums, während des Kalten Kriegs als Räume der Transition fungierten, in denen das neue, ultravernetzte prothetische Subjekt ebenso erfunden wurde wie jene Formen der pharmapornografischen Produktion und des pharmapornografischen Konsums, die schließlich unsere zeitgenössischen Gesellschaften kennzeichnen sollten. Diese Mutation wird nun in der Coronakrise generalisiert und verstärkt: Unsere tragbaren Telekommunikationsmaschinen sind die neuen Kerkermeister, unsere eigenen vier Wände die weichen und ultravernetzten Gefängnisse der Zukunft. 

Unterwerfung oder Mutation

Ob das alles nun eine schlechte Nachricht ist oder eine großartige Chance, wird sich weisen. Gerade weil unsere Körper die neuen Enklaven der Biomacht darstellen und weil unsere Apartments sich in Zellen der Biovigilanz verwandelt haben, ist es heute wichtiger denn je, neuartige Strategien der kognitiven Emanzipation sowie des Widerstands zu erfinden und neue Formen des Antagonismus in Gang zu setzen.

Anders, als man vielleicht denken würde, hängt unsere Gesundheit nicht von Grenzziehungen oder von Abschottung ab, sondern von einem neuen Verständnis der Gemeinschaft aller Lebewesen, einem neuen Gleichgewicht zwischen allen Lebewesen auf diesem Planeten. Wir brauchen ein Parlament der planetarischen Körper, ein Parlament, das sich nicht über identitätspolitische oder nationale Kategorien definiert, ein Parlament der (verwundbaren) Körper, die auf dem Planeten Erde leben. Das Ereignis Covid-19 mit all seinen Konsequenzen ruft uns dazu auf, ein für alle Mal die Gewalt hinter uns zu lassen, über die wir unsere soziale Immunität bislang definiert haben. Heilung und Rehabilitation dürfen wir uns nicht von einer simplen negativen immunologischen Geste des Rückzugs aus dem Sozialen versprechen, von der immunologischen Absonderung von der Gemeinschaft. Heilung und Pflege gibt es nur in einem Prozess der politischen Transformation. Als Gesellschaft genesen werden wir allein dann, wenn wir eine neue Gemeinschaft jenseits der politischen Identitäten und der Grenzen erfinden, über die wir Souveränität bislang produziert haben, aber auch jenseits der Reduzierung des Lebens auf die kybernetische Bioüberwachung. Angesichts des Virus, aber auch angesichts dessen, was noch auf uns zukommen mag, zu überleben, als Planet am Leben zu bleiben, setzt voraus, dass wir neue Strukturen der planetarischen Kooperation errichten. Wollen wir uns während der Mutationen des Virus der Unterwerfung widersetzen, müssen wir unsererseits mutieren.

Es muss uns gelingen, aus dem Stadium der erzwungenen in das der gewählten Mutation überzugehen. Wir brauchen eine kritische Wiederaneignung biopolitischer Techniken und ihrer pharmapornografischen Dispositive. Vor allem ist es unerlässlich, dass wir die Beziehungen unserer Körper zu den Maschinen der Biovigilanz und Biokontrolle ändern, und das betrifft nicht allein die Dispositive der Kommunikation. Wir müssen lernen, uns als Kollektiv zu verändern. Wir müssen lernen, die Entfremdung voneinander zu überwinden. Die Regierungen rufen uns zur Abschottung und zur Heimarbeit auf. Wir wissen, dass sie damit Entsolidarisierung und Telekontrolle meinen. Nutzen wir die Zeit und die Kraft der Quarantäne, um die Traditionen des Kampfes und des Widerstandes der Minderheiten zu studieren, die es uns erlaubt haben, bis heute zu überleben. Schalten wir unsere Mobiltelefone aus, kappen wir die Internetverbindungen. Wagen wir im Angesicht der uns beobachtenden Satelliten den großen Blackout, und denken wir gemeinsam über die kommende Revolution nach. 

 

Veröffentlicht am 7.4.2020

Textauszug aus: Paul B. Preciado, “Ein Apartment auf dem Uranus. Chroniken eines Übergangs”. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. © Paul B. Preciado 2019, 2020. © der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Berlin 2020.

Am 30.5.2020 fand im HAU eine Lesung und Buchpremiere mit Paul B. Preciado statt.