Wer kann übersetzen? Eine politische Frage

Paul B. Preciado

Bei der Amtseinführung des US-Präsidenten Joe Biden im Januar 2021 trug Amanda Gorman ein Gedicht vor, das bald in zahlreiche Sprachen übersetzt werden sollte. Besonders die Kontroverse um die Übersetzung von “The Hill We Climb” ins Niederländische durch Marieke Lucas Rijneveld hat im deutschsprachigen Raum zu Diskussionen geführt. Daraufhin beauftragte der Verlag Hoffmann & Campe ein diverses Team von drei Frauen mit der deutschen Übersetzung. Fragen um race, sex und gender folgen keiner essentialistischen Gleichung, bei der die Äquivalenz der Identität zwischen Autor:in und Übersetzer:in die Qualität einer Übersetzung garantieren könne, schreibt Paul B. Preciado in seinem Essay, in dem er aus französischer Perspektive auf die Debatte blickt. Dennoch birgt die Diskussion die Chance, die Kulturindustrie endlich für die Vielfalt zu öffnen.
 

Seit einigen Monaten wohnen wir einer Reihe von Auseinandersetzungen bei, die in Abwandlung des bekannten Ausdrucks von Judith Butler als “Unbehangen in der Repräsentation” bezeichnet werden könnten. Die jüngste betrifft die Übersetzung der Dichterin Amanda Gorman durch den:die niederländische Schriftsteller:in Marieke Lucas Rijneveld.

Anders als manche, für die diese Auseinandersetzungen nur einem fruchtlosen identitären Konflikt Nahrung gibt (auch wenn sie das tut) und trotz der Gewalt, die auf die:den Übersetzer:in einprasselt (es ist absurd, den Boten zu töten, um so mehr wenn dieser Bote ein:e nichtbinäre:r Autor:in ist, deren:dessen Werk an sich schon einen Akt politischen Widerstands darstellt), möchte ich auf den potentiell produktiven (und eben nicht destruktiven) Charakter dieser Debatten setzen. Falls es uns gelingt, der Dialektik von Essentialismus / Universalismus zu entkommen, können darin sehr wohl Chancen liegen, die Kulturindustrien zu depatriarchalisieren und zu dekolonialisieren. Bevor man die Frage beantworten kann, wer einen Text übersetzen kann, muss zuerst anerkannt werden, dass die Frage an sich bedeutsam ist. Es geht darum, die gleichzeitig künstlerische und politische Dimension dieser in der Kulturindustrie unsichtbar gemachten und abgewerteten Praktiken zu betonen. Übersetzen und Korrigieren sind der Verlagsindustrie das, was die Schwangerschaft für die hetero-patriarchale Reproduktion ist: der Autor (und der Verleger) ist der Vater des Textes; der Übersetzer ist nur eine Leih-Mutter, die den Text Wort für Wort von einer Sprache in die andere überträgt. Wie für Mütter besteht die Aufgabe der Übersetzer:innen darin, zu reinigen, zu pflegen, zu ordnen; aber es ist der Verleger, der Metavater der Bücher, und – ihm nachgeordnet – der Autor, der ihm seinen Namen gibt und das Geld macht. Die Arbeit des Übersetzers und der Übersetzerin sichtbar zu machen, ist eine dringende Aufgabe.

Es geht darum, die gleichzeitig künstlerische und politische Dimension dieser in der Kulturindustrie unsichtbar gemachten und abgewerteten Praktiken zu betonen.

Übersetzung ist immer ein politischer Prozess. Nichts erlaubt die kulturelle Politik einer Nation besser zu verstehen als ihre Übersetzungspraktiken. Man muss nur an die Zögerlichkeit in Hinblick auf französische Übersetzungen der seit den 1980er Jahre erscheinenden Texte aus dem Schwarzen Feminismus denken, aus der queer- oder der postkolonialen Theorie. Erst die globale digitale Explosion von #MeToo und Black Lives Matter macht daraus Texte, deren Übersetzung Rentabilität versprechen. Nun, ganz plötzlich, geben die Verlage feministische und antirassistische Textsammlungen heraus, und so stellt sich mit einem Mal die dringende Frage, wer diese Texte übersetzen kann. Die Anforderungen, die Übersetzungen von bell hooks, Jack Halberstams oder Saidiya Hartmanstellen, haben aber nichts mit Identität zu tun und erst recht nicht mit Ontologie – es geht nicht darum zu wissen, ob Autor:in und Übersetzer:in “dieselbe Natur” teilen: sex, gender und race sind keine Natur, sie sind historische und politische Konstruktionen. race ist kein epidermisches Ereignis, keine natürliche Wahrheit und auch keine Ontologie der Zellpigmentierung, sondern eine politische Technologie der Unterdrückung. Nichtsdestotrotz existiert eine Schwarze Kultur ebenso wie eine queere oder trans Kultur und zwar als kulturelle und diskursive Traditionen, als Ästhetiken des Widerstands.

 

Bei der Übersetzung von Gorman oder jeder anderen Autor:in, die aus minoritären, somapolitischen Traditionen kommt, gilt es nicht eine Identität zu heiligen, sondern die literarische Erfahrung als Überschreitung der normativen Zuschreibung von Identität zu bewahren. Die Frage der politischen Repräsentation in den künstlerischen Praktiken (der Übersetzung, der Adaption usw.) kann nicht ein und für alle Mal geklärt werden, sie folgt keiner essentialistischen, identitären Gleichung mit einer Äquivalenz zwischen Autor:in und Übersetzer:in. Es existiert keine Homogenität der Erfahrung oder des Denkens von sexgender oder race, die Übersetzungstreue garantieren könnte.

Es existiert keine Homogenität der Erfahrung von sex, gender oder race, die Übersetzungstreue garantieren könnte.

Dennoch darf die Frage, wer übersetzen kann, nicht einfach weggeschoben werden durch eine den Text neutralisierende und depolitisierende universalistische Vorannahme, die hinter der Entschuldigung der Universalität der “Literatur” hegemoniale und normative Lesarten von Texten privilegiert. Die Kontroverse um Gorman zeigt einmal mehr, dass die Verleger, die als einfache Händler des kulturellen Kapitalismus agieren, Repräsentanten der politischen Hegemonie sind und die Kämpfe ignorieren, die die Texte beseelen, die sie publizieren. In diesen Tagen ist viel die Rede über die Qualität der französischen Übersetzung durch weiße Autoren von Toni Morrison und von James Baldwin – das bezweifele ich nicht. Aber es gibt kein Beispiel eines wichtigen weißen Autors, den eine schwarze Frau übersetzt hätte. Um die identitären Politiken zu überwinden, muss man paradoxerweise dissidente somapolitische Stimmen in die Verlagsindustrie einführen. Es geht nicht darum, dass meine Bücher von nichtbinären Personen übersetzt werden, aber ich will, dass es exzellente nichtweiße und nichtbinäre Übersetzer:innen gibt, die in der Lage sind, Dante und Proust zu übersetzen und neu zu übersetzen, Virginia Woolf oder Octavia Butler, Kathy Acker oder Horacio Castellanos Moya.

Wir müssen uns von der unproduktiven Dialektik von Essentialismus/Universalismus wegbewegen und einen Prozess der Transformation der kulturellen und verlegerischen Institutionen auslösen. Alles in allem aber können wir das, was passiert ist, mit einem gewissen Optimismus betrachten: die Werke von Amanda Gorman und Marieke Lucas Rijneveld sind selbst Beispiele für den Paradigmenwechsel, der gegenwärtig im Gang ist: sie werden veröffentlicht, übersetzt und gelesen. Das macht am Ende den Unterschied.

 

Hinweis: Entsprechend des französischen Originals wird hier die männliche Form der Begriffe “Autor”, “Verleger” und “Händler”verwendet.

Dieser Text ist zuerst in der Zeitung “Liberation” unter dem Titel “Qui peut traduire? Une question politique…“ erschienen. Aus dem Französischen übersetzt von Stephan Geene.