Im musikalischen Zwiegespräch mit ihren Mitmusikern und mit Hilfe der Gedichte von Thomas Brasch begibt sich Masha Qrella auf die Suche nach verlorenen Utopien und einer möglichen Haltung zu den Widersprüchen unserer Zeit. In diesem Text, der aus einer Preview beim Pop-Kultur-Festival im Sommer stammt, gibt sie einen Einblick in ihre persönliche Motivation für ihre Produktion “Woanders” und damit auch ihren eigenen popkulturellen Werdegang.
Ich bin in Ostberlin geboren. Ich war 14, als die Wende kam. Mit 14 waren wir Revolutionäre und mit 16 waren wir bereits verstummt. Wir besetzten zwar Wohnungen in Berlin Mitte, aber nicht aus politischer Überzeugung, sondern weil sie leer standen und Eigentum für uns keine Bedeutung hatte, wir kamen ja aus der DDR. Wir spielten in Bands ohne eine politische Vision, unsere war ja gerade ad absurdum geführt worden.
Unsere Musik kam ohne Worte aus und sie war unsere Fahrkarte in den Westen. Wir konnten mit feministischen Veranstaltungen und Diskussionen nichts anfangen. Wir begriffen das Problem nicht. In unseren Bands spielten Jungen und Mädchen, wir sahen keinen Unterschied. Wir hatten andere Probleme, für die wir keine Worte fanden, wir hatten keine Identität, aber eine Zukunft in einem Land mit Spielregeln, die wir nicht kannten und die wir erst lernen mussten. Wir vermieden alle Worte, die uns als Ossis outeten.
Wir versuchten die Pop-Codes zu lesen und stellten sie ganz vorsichtig und von nur wenigen gehört in Frage. Aber unser Respekt vor dem, was wir nicht kannten, war größer als unsere Zweifel. Uns umhüllte eine Aura von Authentizität und Naivität. Für deren Ursprünge interessierte sich keiner.
Die Jahre vergingen. Die Codes sind dechiffriert. Meine Ehrfurcht vor westdeutscher Popkultur ist verschwunden, meine Zweifel am System sind größer geworden... Wir sehnen uns nach Utopien, nach Frei- und Zwischenräumen. Wir bekommen Verwertbarkeit und Verkaufsstrategien als Antwort. Der Popkultur, die angetreten ist als „Experimentierfeld der Demokratie“, geht es so schlecht wie dem System, dessen Teil wir ungefragt geworden sind.
Ich verstehe mittlerweile die Genderdiskussionen und Feminismusdebatten. Ich kenne und erkenne Referenzen und Bezüge zu der Popmusikgeschichte, wie sie der Westen geschrieben hat. Unsere Wissenslücken sind wie ein feiner Akzent, der unsere Herkunft verrät. Aber wir kennen alle Probleme, die unsere westdeutschen Gleichaltrigen mit ihrer Vergangenheit haben: den Horror vor der kleinbürgerlichen Spießigkeit ihrer Eltern, den westdeutschen Kleinstadtmief, die Sehnsucht nach Abgrenzung, die Zerrissenheit zwischen Sicherheit und Risiko und die Angst vor dem Versagen und der Vereinsamung. Das sind aber nicht die Fragen, die uns umtreiben. Wir ersticken an der Utopienlosigkeit unserer Generation...
Zum ersten Mal stolperte ich über Thomas Brasch in Marion Braschs Roman “Ab jetzt ist Ruhe”. Die persönliche Perspektive der Autorin kam mir so vertraut vor: Eine Familiengeschichte der DDR-Nomenklatura aus der Perspektive der kleinen Schwester. Ich erwachte wie aus einer Amnesie. Das war auch meine Geschichte, meine Perspektive und meine Vergangenheit, die ich jahrelang ausgeblendet hatte. Ich hatte sogar meinen Namen geändert, um nicht auf meine Ostidentität und Familiengeschichte reduziert zu werden.
Ich fing an Texte von Thomas Brasch zu lesen. Mein Zugang zu Lyrik war schon immer der über Musik und Songs. Meist waren es englischsprachige Texte, die später auch mein eigenes Songwriting prägten. Hier gab es nun deutschsprachige Texte, die mich nicht mehr losließen und ich begann, ohne das Ziel einer Vertonung vor Augen zu haben, Textzeilen, die mir nicht mehr aus dem Kopf gingen, zu singen...
Thomas Brasch hat vor allem in seinen Gedichten eine Art und Weise gefunden, das Wesen dessen vorauszusagen, an dem unsere Gesellschaft heute krankt: am Verlust und Zusammenbruch der eigenen Persönlichkeit. Seine Texte berühren das, was wir glauben verloren zu haben und geben gleichzeitig eine Antwort für eine mögliche Haltung. Er war Utopist, Visionär, Künstler und Mensch. Thomas Brasch ist tot. Menschen wie er fehlen. Genauso wie Utopien. Aber seine Texte gibt es noch. Ich will, dass sie weiterleben und uns inspirieren.