Azadeh G.: Diese Rückwärtsbewegung ist nicht nur etwas, was einige Gruppen in der Diaspora fordern oder wovon die Menschen im Iran betroffen sind. Ich denke, dies ist eine Vision des Orientalismus. Wenn wir in diese Kategorie gesteckt werden, wird von uns erwartet, dass wir uns zurückentwickeln; es wird nicht so etwas erwartet wie Deep Democracy. Ich finde, das ist das Problem mit einigen Medien, wie bei der Deutschen Welle, die du erwähnt hast. Wer sind wir? Wie werden wir definiert? Wie werden wir gesehen? Wie wurden wir charakterisiert? Was ist das Szenario, was ist die Geschichte, die über uns geschrieben wurde? Ich denke, etwas sehr Wichtiges, das bei diesem Aufstand passiert, ist, dass tatsächlich etwas kaputtgegangen ist. Und einige versuchen nun, dieses Kaputte wieder zusammenzuflicken, was mir nicht gefällt. Mir gefällt nicht, wie versucht wird, die Erwartungen anderer an uns wiederherzustellen. Als würden wir benutzt wie Schauspieler*innen, wie deren Spielfiguren auf einer Bühne. Dagegen möchte ich mich wehren.
Ozi: Vielleicht kann ich zum Thema Monarchie etwas beitragen, denn solange ich im Iran lebte, hätte ich nie gedacht, dass ich einmal zu einer Demonstration mit den Flaggen der Monarchie, mit Löwe und Sonne, gehen würde und tatsächlich mit diesen Leuten sprechen müsste. Als organisierende Person, die zwischen allen Teilnehmenden vermittelt, will man nicht, dass sie untereinander streiten, sondern muss auf diese Leute zugehen und mit ihnen reden. Für mich ist es nichts Neues, auf Menschen zuzugehen, die in Opposition zu mir stehen oder mich diskriminieren. Vor dieser ganzen Sache mit dem Iran war ich einfach Entertainer*in. In der Comedy finde ich eine Kraft, mit der ich auf Menschen zugehen kann. Und ich habe eine queere Gemeinschaft für mich beziehungsweise um mich herum aufgebaut. Aber sich in den sozialen Medien oder in der Öffentlichkeit zu exponieren ist nie sicher. Wie soll ich also im Rahmen einer Demonstration also auf eine andere Person zugehen, der das Patriarchat quasi aus den Augen tropft? Auf der Demo am 1. Oktober gab es einen Moment, in dem ich mich wirklich zu diesem Schritt überwunden habe. Ein paar Mal bin ich auf Leute mit Löwe-und-Sonne-Flaggen zugegangen – wir hatten im Vorfeld darum gebeten, keine Flaggen außer der Kurdischen und der Pride-Flagge mitzubringen – und habe sie aufgefordert, keine geschlossene Gruppe zu bilden. Das waren keine besonders friedlichen Gespräche. Insgesamt waren 10.000 Leute da, wir waren auf 2.000 vorbereitet gewesen, also war offensichtlich, dass wir nicht alles kontrollieren konnten.
Danach habe ich eine Rede gehalten. Ich bin auf den Wagen mit der Anlage gestiegen und habe gesagt: “Ich habe mit allen von euch gesprochen, ob mit der kurdischen Fahne, mit der Pride-Fahne oder mit der Löwe-und-Sonne-Fahne – mit euch allen, die ihr gegeneinander kämpft und mich beschimpft. Jetzt ist nicht die Zeit für diese Streitereien. Lasst uns die Islamische Republik loswerden, und danach müssen wir uns demokratisch zusammensetzen und gemeinsam beraten, denn so bringt uns das nicht weiter.” Dann habe ich mir auf dem Lastwagen die Haare abgeschnitten, bin mit der Schere hinunter ins Publikum gestiegen und habe die Leute dort gebeten, mir beim Haareschneiden zu helfen. Unter denen, die mir halfen, waren viele mit der Löwe-und-Sonne-Fahne. Das war ein Moment, in dem wir verstanden, dass wir miteinander reden können, dass wir einander verstehen können, dass wir den gleichen Kampf führen, dass wir aber auch verstehen müssen, wo die roten Linien sind. Alles in allem habe ich aus den letzten vier Monaten mitgenommen, dass wir darüber nachdenken müssen, wie wir einen sichereren Raum schaffen können, eine Situation, in der auch Menschen mit Löwe-und-Sonne-Fahne das Gefühl haben, dass sie dabei sein können und Konflikte vermieden werden. Denn seien wir ehrlich: Viele der Menschen mit dieser Flagge sind Kinder, die in die Revolution hineingeboren wurden, deren Eltern aus dem Land geflohen sind und die nur einen Teil der Geschichte kennen. Für viele repräsentiert die Flagge nicht einmal die Pahlavi-Dynastie, sie benutzen sie einfach. Und wir müssen es möglich machen, untereinander in Kontakt zu treten und uns auszutauschen, denn dieser Gegensatz ist eines der Dinge, aus denen sich die Islamische Republik nährt. Aber wie sehr wir auch versuchen, diesen Raum zu schaffen: Solange andere Gemeinschaften nicht versuchen, sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen, bringt uns das nicht weiter. Denn bis jetzt hat sich Reza Pahlavi nicht hingesetzt und verkündet: “Okay, mein Vater war nicht der beste Mensch auf diesem Planeten. Bestimmte Dinge sind passiert, und ich werde versuchen, sie in Ordnung zu bringen.” Diese Leute stehen nie gerade für das, was passiert ist, und so kann man natürlich keine minoritären Gruppen hinter sich bringen.
Anahita: Ich denke, die Lösung für uns ist zu erkennen: Wenn wir eine Revolution wollen, dann müssen wir die Revolution für uns selbst machen. Wir müssen die Revolution zuerst im Inneren angehen und uns dann aus der eigenen Komfortzone wagen und nach Veränderungen suchen. Denn für mich ist eine Revolution eine Veränderung. Deshalb habe ich ein Problem mit der Monarchie, denn wenn man etwas verändern will, kann man nicht an etwas Altem festhalten, man muss etwas Neues schaffen. Solange man an der Vergangenheit festhält, geht das nicht. Und ich denke, eine Lösung besteht auch darin zu erkennen: Wir alle, vor allem Iraner*innen, die in der Islamischen Republik aufgewachsen sind, müssen akzeptieren, dass wir die Denkmuster der Islamischen Republik in uns tragen. Wir müssen das akzeptieren, dann können wir es auch überwinden. Dann können wir uns kritisch mit uns selbst auseinandersetzen und verstehen: “Diese Art zu denken, ist das meine eigene, oder ist es ein Denkmuster, das mir in meinem vergangenen Leben eingeimpft wurde?” Wir kritisieren einander nicht, um uns schuldig zu fühlen, sondern um zu begreifen, was diese Gehirnwäsche mit uns angestellt hat, und wie wir weitermachen und verstehen können, was vor sich geht.
Ich denke also, dass diese Revolution in jeder einzelnen Person stattfinden muss, auch in mir. Wenn ich hier sitze und rede, muss ich offen darüber sprechen, woher diese Art von Reaktionismus kommt. Denn um ehrlich zu sein, sind wir alle in einer Situation, in der wir füreinander transparent werden und die Narben der anderen sehen können. Sie sind offen, sie bluten. Ich glaube, wir alle müssen uns weiterbilden. Ich habe in diesen 100 Tagen viel gelernt. Es ist wie eine komprimierte Geschichtslektion, aber auf eine praktische Art und Weise, die uns auch hilft zu verstehen, dass es genau das war, was die Islamische Republik wollte: uns voneinander trennen. Nicht wissen, was zum Beispiel die Sprache der Belutsch*innen ist, woher sie kommen, was ihre Kultur ist. Diese Trennung fand über Jahre hinweg statt, selbst in unseren Witzen. Die Menschen standen gegeneinander. Was mich jetzt wirklich ärgert, ist, dass die Menschen außerhalb des Landes, in der Diaspora, die Freiheit haben, über die Situation zu sprechen und die Stimme der Stimmlosen zu sein. Aber das tun sie nicht, sie sind nicht ihre Stimme. Wir brauchen die Monarchie nicht, wir brauchen niemanden, der uns regiert. Ich denke, es ist ein Verrat. Es ist Verrat, diese Stimme zu benutzen und dabei nicht auf das Volk zu hören.