Queerfeminist*innen in Mittel- und Osteuropa im Ausnahmezustand

von Ewa Majewska

Ewa Majewskas Texte beschreiben und inspirieren kritisches feministisches Denken und Wirken in Mittel- und Osteuropa sowie darüber hinaus. Jenseits singulärer Held*innennarrative eröffnet ihr philosophisches Konzept des “schwachen Widerstands” (weak resistance) Möglichkeiten revolutionärer Erzählungen über alltägliches politisches Handeln, transversale Solidarisierung und gemeinschaftliches Engagement. Ausgehend von den jüngsten Protesten in Polen zeigt Majewska, dass feministische Kämpfe und anti- faschistischer Widerstand heute wieder akut zusammen hängen.

In den letzten zehn Jahren haben gesetzliche Einschränkungen des ohnehin bereits restriktiven Zugangs zu Abtreibung in Polen dazu geführt, dass sich Frauen und ihre Verbündeten in beispiellosem Maße für reproduktive Gerechtigkeit und bessere politische Repräsentation einsetzten. Diese Bewegung war von Anfang an Teil des Internationalen Frauenstreiks, bei dem Menschen in 75 Ländern, darunter Argentinien, Mexiko, Italien und Südkorea, gegen das Patriarchat protestieren. (1) Im Zuge dessen gewannen feministische Ideen und Organisationen über soziale, wirtschaftliche und geopolitische Grenzen hinweg massiv an Popularität. Im September 2016 hielten die Proteste in Polen an und gipfelten am 3. Oktober in einem Frauenstreik, für den rund 250.000 Menschen in 150 polnischen Städten und sogar Dörfern auf die Straßen gingen. Seitdem ist diese feministische Massenmobilisierung zu einer Bewegung (2) geworden, die weit über eine Lifestyle-Aktivität für privilegierte weiße Frauen hinausgeht und eine kollektive Anstrengung bedeutet, die Unterschiede zwischen den gemeinsam agierenden Teilnehmenden und Gruppen anerkennt. Frauen, die in der Regel nicht dazu tendieren, sich politisch zu engagieren, schlossen sich der Bewegung an und begannen, sich an der Basis zu organisieren. 

Die De-Elitisierung des Feminismus ermöglichte also “gewöhnlichen Frauen”, Teil dieser Bewegung zu sein. Obgleich die Kategorie “gewöhnlich” gemischte Gefühle und Kritik hervorruft, erfasst sie eine entscheidende Dimension der jüngsten feministischen Proteste, die oft unsichtbar bleibt. Das hegemoniale liberale Abtreibungsnarrativ, das sich allein auf individualistische, auf den freien Willen bezogene Argumente stützt, hat manche davon abgehalten, das Recht auf Abtreibung aktiv zu verteidigen. Vielen Frauen fällt es leichter, ihre reproduktiven Entscheidungen in Bezug auf ihre familiäre, wirtschaftliche oder gesundheitliche Situation zu verhandeln, während die Frage nach der “Wahl” für sie – anders als für die meisten Angehörigen der oberen Mittelschicht – zweitranging ist. Die Sorge um den Kontext, Beziehungen, die Ökonomie und den Körper ist eher mit einem materialistischen Feminismus vereinbar als mit liberal-feministischen Forderungen.

Seit 2016 ist diese feministische Massenmobilisierung zu einer Bewegung geworden, die weit über eine Lifestyle-Aktivität für privilegierte weiße Frauen hinausgeht.

Materialistischer Feminismus – der geschlechtsspezifische Rollen und ihre performative Wiederholung als immer schon in die ideologische Ordnung der kapitalistischen Produktion eingebettet versteht – ermöglicht es uns, alle Aspekte von Elternschaft auf kontextualisierte, historisch und geopolitisch verortete, verkörperte Weise zu erörtern. Intersektional verstanden, ist Abtreibung nicht nur eine Frage der Wahl. Reproduktion kann als eine Kreuzung (intersection) (3) betrachtet werden, an der mehrere Straßen zusammentreffen und vielfältige Faktoren eine Position konstituieren. Wahlmöglichkeit und Rechte sind vielleicht nur zwei Faktoren, die mit einer Vielzahl von historischen, materialisierten und verkörperten Elementen ideologischer Reproduktion interagieren, wie kulturelle Einflüsse, Ethik, Sozialisation, Klasse, Gender und Ethnizität. Solche kontextuellen “Straßenkreuzungen” (4) helfen auch dabei, die performative Gender-Reproduktion zu verstehen. (5) Wie würde sich die Debatte über reproduktive Gerechtigkeit verändern, wenn wir die Perspektive der Queer Studies auf die Entwicklung eines verorteten, prozesshaften, verkörperten Verständnisses von Abtreibung anwenden würden?

Die erste Veränderung bestünde darin, dass das Narrativ der reproduktiven Gerechtigkeit trans Personen nicht ausschließt. Das Thema Abtreibung würde nicht essenzialistisch, sondern offen mit Menschen verschiedener Geschlechter und Lebensweisen diskutiert. Abtreibung ist nicht nur eine Frage der Wahl, sondern auch der sozioökonomischen Umstände, und es gibt keine ideale Person, der sie gestattet sein sollte, weder hinsichtlich ihrer Identität noch ihrer politischen Ansichten.

 Zweitens behaupte ich, dass die Bemühungen, Abtreibungen zu verbieten, von der Rückkehr faschistischer Politik nicht zu trennen sind. Im Gegenteil: Das Bestreben, die reproduktive Gesundheit von Frauen streng zu kontrollieren, muss als notwendiger Bestandteil des heutigen “Ausnahmezustands”  gesehen werden, der von vielen Politiker*innen geschaffen wird, die mit der weltweiten Rückkehr faschistischer Politik in Verbindung stehen – von Putin bis Orban, von Kaczyński bis Trump, von Bolsonaro bis Salvini. Der “Ausnahmezustand” (6) hat eine lange Geschichte: Das Konzept stammt von dem deutschen Philosophen Carl Schmitt und bildete eine Grundlage für den Faschismus der 1930er-Jahre. Seine zentralen Elemente sind immer dieselben: 1. die Unterwerfung parlamentarischer und gerichtlicher Befugnisse unter die Exekutive; 2. die Konstituierung einer Regierung oder eines Führers, der Recht schafft, aber auch immer schon davon ausgenommen ist; und 3. die Benennung einer feindlichen Gruppe und der Fokus auf deren Abwertung und Ausrottung. In Zeiten des internationalen “Anti-Gender-Populismus“  werden daher sowohl Frauen als auch LGBTQIA+-Personen in verschiedenen Ländern zum “Feind”.

Die erste Veränderung bestünde darin, dass das Narrativ der reproduktiven Gerechtigkeit trans Personen nicht ausschließt.

Der Begriff des “Ausnahmezustands” ermöglicht es uns, das Auftreten des Faschismus (8) in verschiedenen politischen und kulturellen Zusammenhängen aufzuzeigen, unter anderem auch in den Regierungen der oben erwähnten rechten Politiker*innen. Es wäre irreführend, Polen als Paradebeispiel für die derzeitige Situation in der Region Mittel- und Osteuropa anzuführen. In den meisten dieser Länder gibt es bessere reproduktive Rechte einschließlich des Zugangs zu Abtreibung. Dennoch sind die politischen Verschiebungen in Polen symptomatisch für die globalen Tendenzen fundamentalistischer rechter Mobilmachung, die eine “Anti-Gender”-Politik verfolgt und darauf abzielt, den Staat nach dem Vorbild von Schmitts “Ausnahmezustand” zu transformieren.

Faschismus fordert eine heroische Vision und Praxis der Subjektbildung. Die Einschränkung reproduktiver Rechte kann als Teil dieses Prozesses betrachtet werden, der Menschen auf die schmerzhafteste Weise der absoluten Herrschaft des Souveräns unterwirft. Faschismus verlangt von der gesamten Gesellschaft absolute Gefolgschaft, wobei er die traditionelle Geschlechtertrennung aufrechterhält und stärkt, Männer militarisiert und Frauen zwingt, ihre Lebensziele auf Reproduktion zu beschränken. Faschismus verlangt, dass Männer und Frauen sich in einer Symmetrie des Heldentums aufopfern. Dass LGBTQIA+-Personen dabei keine Rolle spielen, dient zugleich der Bekräftigung von Forderungen nach deren “Beseitigung”, wie sie leider in den Parolen heutiger Faschist*innen und “TERFs” (9) widerhallen.

Als Jarosław Kaczyński 2016 sagte, dass Frauen ihre Schwangerschaften “unter allen Umständen austragen sollten”, war er bereit, die tödlichen Folgen einer solchen Aufopferungsvision in Kauf zu nehmen. Wie das polnische Verfassungsgericht im Jahr 2020 entschied, muss eine Schwangerschaft auch dann zu Ende geführt werden, wenn Anzeichen schwerer Erkrankungen vorliegen. Seitdem wurde Patient*innen notwendige medizinische Hilfe vorenthalten, weil die behandelnden Ärzt*innen fürchteten, Schwangerschaften illegal zu beenden. Infolgedessen verstarben einige Schwangere. Diese Tragödien resultieren aus der Art von Held*innentum, die heute das Schicksal von Schwangeren in Polen bestimmt: Wir alle müssen für unseren Souverän tapfer sein, selbst wenn wir dabei unser Leben verlieren.

Die Bemühungen, Abtreibungen zu verbieten, sind von der Rückkehr faschistischer Politik nicht zu trennen.

Wer in Polen eine Abtreibung benötigt, sucht Hilfe bei informellen feministischen Organisationen und Netzwerken wie dem Abortion Dream Team, Women on Net, Ciocia Basia (in Berlin) und Ciocia Wienia (in Wien) oder geht ins Ausland, um die Schwangerschaft unter gesundheitlich sicheren Bedingungen und ohne Retraumatisierung beenden zu können. Die Solidarität der Frauen hilft uns, das heroische Paradigma zu überwinden, indem sie egalitäre Mittel des Widerstands gegen die tödlichen Weiblichkeitsnormen des “Ausnahmezustands” bietet. Ich nenne das “schwachen Widerstand” (weak resistance) – eine unheroische Politik, die sich den politischen Tendenzen des Faschismus fundamental entgegenstellt. In diesem Sinne wurde 2016 der überwiegend urbane Feminismus langsam durch eine von “gewöhnlichen Frauen” angeführte, unheroische Massenbewegung abgelöst. Das Konzept des “schwachen Widerstands” ermöglicht es uns, diese Entwicklung zu erklären, denn es beschreibt die politische Dimension von Handlungen, denen in klassischen Darstellungen von Politik keine Wirkung zugesprochen wird. Im “schwachen Widerstand“ wird ersichtlich, wie unheroische Subjekte anhand von gewöhnlichen, alltäglichen Strategien politisch agieren können und dies auch tun.

Der Internationale Frauenstreik verbreitete sich in den späten 2010er-Jahren in einer ähnlichen Welle des “schwachen Widerstands” auf der ganzen Welt und brachte die Macht der Ohnmächtigen so erneut zum Ausdruck.

Diese Art der Politik kommt in den meisten Geschichtsbüchern nicht vor, wo politisches Handeln hingegen am Beispiel siegreicher Kriege und Schlachten oder als traditionell männliches Verhalten gemäß hegemonialer europäischer Sozialisation vermittelt wird. In den aktuellen Protestbewegungen für reproduktive Gerechtigkeit werden andere Formen von Politik tagtäglich in die Tat umgesetzt – wie Community Organizing, Solidaritätsaktionen und Grassroot-Mobilisierung –, die bisweilen über soziale und kulturelle Grenzen zwischen institutioneller und informeller, ländlicher und städtischer, armer und bürgerlicher, reformistischer und radikaler, antifundamentalistischer und antifaschistischer Politik hinweg wirken. In “Die Macht der Ohnmächtigen” beschreibt Vaclav Havel jene, die Ende der 1970er-Jahre allen Grund hatten zu denken, Widerstand sei zwecklos. Dennoch führten Solidarisierung und Subversion 1980 in großem Stil zur Gründung der Solidarność-Bewegung in Polen. Der Internationale Frauenstreik verbreitete sich in den späten 2010er-Jahren in einer ähnlichen Welle des “schwachen Widerstands” auf der ganzen Welt und brachte die Macht der Ohnmächtigen so erneut zum Ausdruck.

Die Fähigkeit zum transversalen Handeln ist für die heutige internationale feministische Bewegung ungemein wichtig. (1) Sie setzt sich über Grenzen einst als gegensätzlich betrachteter Formate und Strategien (Reform vs. Revolution; Basisdemokratie vs. Institution) hinweg. Sie verändert im Gegensatz zum liberalen Feminismus die Gesellschaft als Ganzes und nicht allein die Situation der Frauen, die in ihr leben. Die Fähigkeit, hybride Gestalt anzunehmen, heterogene Gruppen und Organisationen einzubeziehen und zu vereinen und sich gemeinsam für das Gemeinwohl einzusetzen, macht den heutigen Feminismus so wirksam. In diesem Sinne gilt auch, dass es keinen Antifaschismus ohne Queerfeminismus und Antirassismus geben kann. Dass Black Lives Matter und der Internationale Frauenstreik etwa zur gleichen Zeit als vorwiegend von Frauen angeführte Bewegungen entstanden sind, zeigt: Feminismus ist nicht mehr am Rande, sondern im Zentrum antifaschistischer Politik zu verorten.

(1)    Siehe Verónica Gago, “Für eine feministische Internationale” (2021) und Elżbieta Korolczuk/Agnieszka Graff, “Anti-Gender Politics in the Populist Moment” (2021).
(2)    Das heißt, eine Bewegung, wie sie bell hooks in “Feminist Theory: From Margin to Center” (1984) definiert.
(3)    Siehe Kimberlé Crenshaw, “Demarginalizing the Intersection of Race and Sex” (1989).
(4)    Siehe Gloria Anzaldúa, “Borderlands/La Frontera” (1987).
(5)    Siehe Judith Butler, “Körper von Gewicht” (1997).
(6)    Siehe Giorgio Agamben, “Ausnahmezustand” (2004).
(7)    Siehe Elżbieta Korolczuk/Agnieszka Graff, “Anti-Gender Politics in the Populist Moment” (2021).
(8)    Roger Griffin beschreibt den Faschismus als eine Kombination aus Restauration (der Tradition) und Revolution (als deren Modus); Slavoj Żiżek spricht von “Neofaschismus”, und Jack Bratich beschäftigt sich mit Mikrofaschismen.
(9)    Trans Exclusionary Radical Feminists (dt.: trans Personen ausschließende radikale Feminist*innen).
(10)Eine transversale Bewegung, wie sie in Felix Guattaris “Die drei Ökologien” (1994) beschrieben wird.
 

Every Day
Feministische Kämpfe im post-sozialistischen Europa
Festival mit Nicoleta Esinencu & teatru-spălătorie, Selma Selman, Kolektiv Igralke & Tjaša Črnigoj, Anna-Marija Adomaitytė & Gautier Teuscher, Gosia Wdowik, Mikolt Tózsa, TATAR KYZ:LAR (allapopp & Dinara Rasuleva), Galina Ozeran & Daria Goremykina, Olga Shparaga, Marina Naprushkina, Antonina Stebur, Kateryna Mishchenko, Ewa Majewska, Leonie Steinl, Zorka Wollny u.a.

21.–29.3.2025 / HAU1, HAU2, HAU3, HAU4

Zum Programm

Dieser Text basiert auf einem Artikel, der in “Critical Times” 7(1) 2024 veröffentlicht wurde. Übersetzung ins Deutsche: Christina Gauglitz.

Ewa Majewska ist eine feministische Kulturtheoretikerin und lehrt an der SWPS-Universität in Warschau. Sie ist die Autorin des Buches “Feminist Antifascism. Counterpublics of the Common” (2021).