Petra Poelzl: Hallo Ali, schön, dich endlich persönlich kennenzulernen! In deiner Arbeit hast du eine Sprache entwickelt, die von der arabischen Mythologie und dem politischen, sozialen und religiösen Kontext Libanons inspiriert ist. Deine Performance “Iza Hawa” ist Teil einer Trilogie über Liebe. Und du hast auch eine Trilogie über Trauer gemacht.
Ali Chahrour: Die Trilogie über Trauer und Totenrituale entsprang einer sehr persönlichen Perspektive. Ich stamme aus einer schiitischen Familie. Die Ästhetik des Wehklagens hat bei uns eine lange Tradition, genau wie das Schreiben von Gedichten, um die Erinnerung an die Menschen zu bewahren, die diese Welt verlassen haben. Meine Mutter hat mich sehr inspiriert. Mein Vater ist vor 20 Jahren gestorben. Aber ich kann ihn mir immer noch bildlich vorstellen, weil seine Erinnerung durch die Stimme meiner Mutter, durch ihre Geschichten und durch die Art, wie sie um ihn getrauert hat, immer präsent ist.
Neben diesem persönlichen Aspekt faszinieren mich Beerdigungen sehr, insbesondere bei den Schiiten. Es gibt unzählige Regeln und Tabus für die Art und Weise, wie wir um die Menschen trauern, die wir lieben. Ich bin immer beeindruckt, wie Leute in dieser sehr intensiven emotionalen Situation in der Lage sind, gesellschaftliche, religiöse und politische Tabus zu brechen, als ob der Tod das Tor zu einer freien Ausdrucksweise öffnen würde. In der Moschee oder an den religiösen Stätten, an denen die Beerdigungen abgehalten werden, kann man sehen, wie Frauen ihre Schleier abnehmen und einander in die Arme fallen. Ich war sehr fasziniert von dieser extremen Situation voller Liebe, Trauer und Aggression und vom politischen Aspekt dieses Ausdrucks von Liebe. Er ist ein politisches Statement. Und das hat mich dazu gebracht, eine Liebestrilogie zu entwickeln.
PP: Wie fließen diese Aspekte in deine künstlerische Arbeit mit ein?
AC: Die erste Performance von 2014 hieß “Fatima”. Fatima ist der Name meiner Mutter. Die Arbeit ist von einem Gedicht inspiriert, das sie für meinen Vater geschrieben hat, als er starb. Fatima ist auch der Name der Tochter des Propheten Muhammad. Eine weitere Inspiration war Fatima Umm Kulthum (1908–1975), die berühmte ägyptische Sängerin, die über Liebe, Sex und Leidenschaft sang. Alle waren so von ihrer Schönheit eingenommen, dass sie über alles singen konnte, worüber eigentlich niemand sprechen durfte. 2015 folgte das Stück “Laila’s Death”, für das ich die Klagefrau Laila eingeladen habe. Laila ist eine professionelle “Pleureuse”: Wenn jemand gestorben ist, wird sie in das Haus des oder der Toten eingeladen, um zu singen und die Leute zum Weinen zu bringen. Sie hat meinen Vater beklagt, als er gestorben ist. Zehn Jahre später habe ich sie eingeladen, auf der Bühne zu singen. In “Laila’s Death” hat sie ihre Geschichte und ihren Werdegang als Klagefrau erzählt. In diesem Stück wird sie von zwei Musiker*innen und von mir als Performer und Tänzer begleitet. Sie hat auch auf der Bühne getanzt. Heute gibt es keine professionellen Klagefrauen mehr. Sie werden nicht mehr engagiert, um den Tod eines geliebten Menschen zu beklagen.
PP: Wie ging es nach dieser Produktion weiter?
AC: Das war nicht die einzige Zusammenarbeit mit Laila. Der dritte Teil der Trilogie heißt “May He Rise and Smell the Fragrance” (2017) und ist von der männlichen Präsenz bei den Beerdigungen und der Fragilität von Männlichkeit inspiriert. Er beruht auf einer sehr persönlichen Erfahrung, die ich bei der Beerdigung meines Vaters gemacht habe. Mein älterer Bruder war gerade im Ausland, in Deutschland, deshalb war ich das einzige männliche Familienmitglied und musste Stärke demonstrieren. Ich musste standhaft bleiben und Hände schütteln. Aber ich wollte nicht. Ich wollte einfach nur schwach sein. Also hat meine Mutter übernommen und sich um alles gekümmert.
PP: Du hast gesagt, diese Klagelieder seien politisch. Und vorhin hast du erwähnt, dass auch Liebe politisch sei. Auch wenn sie in unserer kapitalistischen Welt romantisiert und banalisiert wird, verfügt sie über eine große politische Macht. Diesen Aspekt möchte das Festival “Love is a Verb” auch kritisch hinterfragen, vor allem in unserer heutigen binären Welt. Kannst du uns mehr über die Vorstellung von Liebe in der arabischen Mythologie erzählen, und wie du sie mit der heutigen Zeit in Verbindung bringst?
AC: Meine Arbeit ist von arabischen Mythen, aber auch von unseren heutigen Geschichten inspiriert. Ich interessiere mich für die Auseinandersetzung mit den verborgenen Geschichten und Stimmen in den Gassen Beiruts, über die niemand sprechen will und die niemand hören will. Ich habe das Bedürfnis, mit meinem eigenen künstlerischen Ansatz Geschichten zu erzählen, vor allem Geschichten von Menschen, die diese Welt verlassen haben, ohne dass ihnen die Gerechtigkeit zuteil wurde, die sie verdient hätten. Nach der Wirtschaftskrise in Libanon, der Explosion im Hafen von Beirut, all dem Leid in diesem Land ist das Einzige, was uns geblieben ist – das klingt sehr nach einem Klischee, aber es ist wahr – die Liebe. Und das laut auszusprechen wurde zu etwas Politischem: Ich möchte über einzelne Menschen sprechen. Ich möchte die Liebe befragen. Ich möchte kleine Gesten sammeln, genau wie ich eine Gruppe in einem Proberaum versammle, um eine neue Familie zu gründen. Das wurde zu einem politischen Aspekt. Roger Assaf, der Performer in “Iza Hawa” hat im Proberaum etwas sehr Berührendes zu mir gesagt. Er sagte, wir würden in diesem Proberaum im Kleinen eine Gemeinschaft bilden, wie wir sie uns in der Welt da draußen wünschen würden.
Um zur Todes-Trilogie zurückzukommen: Mit der Performance “Told By My Mother” aus dem Jahr 2021 ist es uns praktisch gelungen, ein Leben durch Liebe zu retten. Abbas, ein junger Mann, wurde so gebrainwasht, dass er Kämpfer werden wollte. Er hatte schon die Papiere unterschrieben, um ein Märtyrer zu werden. Ich habe seine Mutter eingeladen, mit ihrem Sohn auf er Bühne zu tanzen. Es war ein sehr langer Prozess, aber am Ende schafften wir es, ihn zu überzeugen. Ich erinnere mich noch an den Moment, als er ankam. Ich habe zu ihm gesagt: “Lass dir Zeit, denk darüber nach und entscheide dich dann. Entweder kommst du mit deiner Mutter tanzen oder du ziehst in den Kampf und wirst höchstwahrscheinlich sterben.” Er kam, nahm den Vertrag, den er unterschrieben hatte, und zeriss ihn vor dem ganzen Team. Das Theater und die Macht des Tanzes haben ihn also gerettet. Parallel dazu erzählen wir die Geschichte meiner Tante Fatima, die ihren Sohn verloren hat. Er wird bis heute in Syrien vermisst.
2021 habe ich “The Love Behind my Eyes” gemacht, die Geschichte eines Muftis zur Zeit der Abassiden, der sich in einen Mann aus Isfahan verliebte. Die Performance ist von seinen Gedichten inspiriert. Weil er seine Leidenschaft nicht ausleben konnte, schrieb er wunderschöne Gedichte für seinen Geliebten. Er starb sehr jung. Es heißt, er sei an einem gebrochenen Herzen gestorben. Das Stück ist auch von vielen anderen Liebesgeschichten inspiriert, die ein Ende fanden aufgrund dessen, was die Gesellschaft oder eine bestimmte Situation dieser Liebe auferlegt hat. Es gibt keinen fruchtbaren Boden, auf dem diese Liebe erblühen kann, dieser Boden ist toxisch. Eigentlich sollten es nur diese drei Performances sein, aber dann habe ich das Projekt ausgeweitet, weil ich mich immer mehr für das Thema Älterwerden interessierte.
PP: Während des Festivals sprechen wir auch über das Alter und das Älterwerden, insbesondere in Bezug auf Frauen nach ihrer Reproduktionsphase. Für “Iza Hawa” hast du Hanane Hajj Ali und Roger Assaf, zwei arabische Theater-Ikonen, auf die Bühne eingeladen.
AC: In letzter Zeit habe ich viel über das Älterwerden nachgedacht, und was es bedeutet, in einer Stadt wie Beirut alt zu werden. Ich habe viel über Väter und Mütter nachgedacht, die so Vieles in diesem Land miterlebt haben. Den Bürgerkrieg, den Krieg mit Israel und jetzt die Wirtschaftskrise. Sie sollten das Recht haben, die Füße hochzulegen und sich sicher zu fühlen. Was kann ich tun, um meine Mutter zu beschützen? Was kann ich tun, damit es ihr gut geht? Ich habe Roger und Hanane, bei denen ich studiert habe, eingeladen, bei einem Projekt über die Liebe und das Älterwerden mitzumachen, weil sie seit 35 Jahren ein Paar sind.
Sie hängen sehr an dieser Stadt, sie lieben diese Stadt. Sie sind dort berühmte Persönlichkeiten. Sie geben diesem Land Libanon sehr viel. Es gibt auch eine Parallele zu ihrer eigenen Liebesgeschichte, über die Art und Weise, wie sich ihre Beziehung wandelt. Sie haben Kinder, die aber im Ausland arbeiten, deshalb leben sie nur als Paar in der Stadt. Ich habe mir immer vorgestellt, wie sie dastehen und von oben den Zusammenbruch von Beirut und der ganzen Region beobachten. Bei einem meiner ersten Treffen mit Roger zu diesem Projekt erwähnte er ganz beiläufig, dass er zum ersten Mal in seinem Leben darüber nachdenke, Beirut zu verlassen. Ganz einfach deshalb, weil er keinen weiteren Winter in Libanon ohne Heizung und ohne Strom aushält. Er macht sich Sorgen um seine Gesundheit. Das würde jedoch nicht nur eine Trennung von seiner geliebten Stadt bedeuten, sondern auch eine Trennung von seiner Frau, die dortbleiben möchte. Das hat mich sehr berührt, denn es hat die Frage nach Zugehörigkeit aufgeworfen. Gleichzeitig zerfällt diese Stadt, die wir alle lieben. Unsere Beziehung zu Beirut ist ziemlich toxisch, weil wir diese Stadt lieben; wir wollen sie verlassen, können es aber nicht. “Iza Hawa” ist ein Liebesbrief von einer Frau an ihren Mann und von einem Mann an seine Frau. Aber es ist auch ein Liebesbrief an diese Stadt und an all die gefallenen Städte, die wir lieben.
PP: Wie würdest du “Iza Hawa” übersetzen?
AC: Es war eine bewusste Entscheidung, den Titel nicht zu übersetzen. Es ist quasi unmöglich, ihn in einer anderen Sprache auszudrücken. “Iza Hawa” bedeutet “wenn er fällt”. Und “Hawa” bedeutet Liebe. Wenn man jemandem verfällt, wenn wir uns verlieben. Das Wort “hawa” bedeutet aber auch “Luft” oder “Wind”. Die Performance basiert darauf, dass die Performer*innen physisch von der Bühne fallen könnten, vor allem Roger. Normalerweise bringe ich die Performer*innen im Proberaum an ihre Grenzen. Ich habe auch Roger an seine Grenzen gebracht, aber auf sehr respektvolle Weise. In der ersten Szene nimmt ihm seine Frau den Gehstock ab, mit dem er sich sonst abstützt, und er führt die ganze Performance ohne seinen Stock durch. Das war ein magischer Moment, denn im alltäglichen Leben kann er nicht wirklich gehen, aber in der Performance tut er es eine Stunde lang. Doch es besteht jederzeit das Risiko, dass er hinfällt. Deshalb sind mein Regie-Assistent Chadi Aoun und ich mit auf der Bühne, falls irgendetwas passiert.
PP: Als Choreograf diesen Körpern Halt und Struktur zu geben, ist auch eine ziemlich große Geste. Es ist ein Akt der Fürsorge und der Liebe, anderen einen Raum zu geben, in dem sie sich bewegen können.
AC: Ja. Die Choreografie ist ganz organisch entstanden, ohne über Fürsorge nachzudenken, denn bei dieser Performance wussten wir unsere gemeinsame Anwesenheit sehr zu schätzen, mehr als bei jeder anderen Performance. Und ich bin sehr dankbar, dass ich Roger, Hanane und meine Gruppe, die Leute, mit denen ich arbeite, immer noch berühren kann. Das meine ich, wenn ich sage: Kleine Gesten werden politisch.