Feministische Vielstimmigkeiten

von LASTESIS

Wir stehen an einem Wendepunkt, konstatiert das chilenische Performance-Kollektiv LASTESIS in seinem neuen Buch. Feministische Bewegungen leisten immer erfolgreicher Widerstand gegen die Gewalt, die von kapitalistischen, patriarchalen und kolonialen Paradigmen ausgeübt wird. “Polifonías feministas” ist zugleich Essay, Poesie und eine Einladung, Teil dieser kollektiven Macht zu sein. Um Binaritäten zu überwinden und das System zu hacken. Hier lesen Sie einen exklusiv übersetzten Auszug aus dem Buch, das im November 2022 auf Spanisch bei Random House erschienen ist.

Als Kollektiv haben wir uns vielleicht am intensivsten mit der Thematik der Körperlichkeiten beschäftigt. Denn in der Materialität des Körpers wird die Gewalt konkret, wahrnehmbar und sichtbar. Körper können die Anzeichen der Gewalt nicht verstecken – und sie wollen es auch nicht. Es geht darum, die Wunde zu zeigen, die wir nicht ignorieren können und die Narben und die Spuren hervorzuheben. Denn Körper sind auch miteinander verbundene Territorien. Hier findet der koloniale Extraktivismus in den Körper-Territorien genauso aktiv Anwendung wie in den Räumen, in denen wir uns verorten. Und wir sagen kolonial, weil diese Praxis einer langjährigen Herrschaftsstruktur folgt.

Wer behauptet, dass der Kolonialismus der Vergangenheit angehört, entscheidet sich dafür, nicht zu sehen, wie die imperialen Länder des Nordens uns weiterhin ausbeuten – ohne Grenzen und ohne Anstand. Daher ist es so wichtig, über DEKOLONIALITÄT in den Feminismen zu sprechen und uns zu fragen, wie wir uns vernetzen und miteinander sprechen können, ohne extraktivistischen Logiken zu folgen, sogar zwischen uns Frauen und Queers selbst.

Viele Male haben sie vom Norden aus versucht “uns eine Stimme zu geben”, wenn wir doch in Wirklichkeit darauf angewiesen sind, dass sie auf ihre Privilegien verzichten. Denn die Stimme, diese SUBALTERNE Stimme, die nicht sprechen kann, hacken wir, um sie zum Klingen zu bringen: “Um in Sprachen zu sprechen”, wie es Manuela Infante in der Theaterperformance “Metamorphoses” darstellt, zu sprechen über all jene Male, in denen wir mutieren mussten, um uns ein weiteres Mal vor dem Missbrauch zu retten. Uns verändern, uns verwandeln, um nach unseren eigenen Gesetzen zu leben. Um zu entkommen, bevor sie uns zu Produkten machen, zu Privateigentum, das andere besitzen und später wegwerfen können. Wir sprechen nicht nur davon, einem sexuellen Übergriff zu entkommen. Denn der Extraktivismus betrifft nicht nur unsere Sexualität, unsere Fähigkeit zur Reproduktion oder unsere Arbeitskraft, sondern er betrifft unsere Ideen. Daher müssen wir uns als feministische sudaca Frauen und Queers vollständig selbst gehören. Wir müssen sagen können, dass sie uns, angeblich mit unserem Einverständnis, beherrscht haben. So haben sie sich vollkommen und unmittelbar von unserem Kampf, von unseren Feminismen des Südens losgemacht.

Wer behauptet, dass der Kolonialismus der Vergangenheit angehört, entscheidet sich dafür, nicht zu sehen, wie die imperialen Länder des Nordens uns weiterhin ausbeuten.

Unter der kolonialen Struktur und dem damit einhergehenden Genozid haben wir gelernt, eine “andere” Menschheit zu sein. Aber es reicht nicht, den Blick auf diese weniger menschliche Andersartigkeit zu werfen. Denn die Herablassungen unterstreichen doch nur die Überlegenheit des Nordens, diese Anspannung, die sich als Wohltätigkeit, Paternalismus, ethnische und intellektuelle Überlegenheit schmückt. Um einen transkulturellen und dekolonialen Feminismus zu entwickeln, müssen diese eingefahrenen Praktiken beseitigt werden. Auf unseren geplünderten Kontinenten müssen Entschädigungspraxen ausgearbeitet werden. Und auch wir müssen uns in unseren eigenen Territorien dafür verantworten, diese Plünderungen, die noch immer vor den Augen und geduldet von so vielen geschehen, aufrechterhalten und begünstigt zu haben. Es handelt sich um umfassende Plünderungen mit einer Vielzahl an Gesichtern, Materialitäten und Formen, die mit dem neoliberalen Kapitalismus Hand in Hand gehen und keine Grenzen kennen. “Es ist keine Dürre, es ist Plünderung”, so ist es nicht weit von Valparaíso zu hören – in einer Region, in der schon jetzt zahlreiche Siedlungen und Tiere kein Wasser mehr haben. Grund dafür ist der systematische Extraktivismus der Industrie, geführt von einigen wenigen Akteur*innen, die unsere Territorien privatisiert und geplündert haben und gleichzeitig Umweltaktivist*innen, die ihnen die Stirn bieten, verfolgen, bedrohen und umbringen.

Wozu sollen wir uns also hinsetzen, uns unterhalten und diskutieren, solange unsere Sorgen weiterhin um das Überleben kreisen? Wenn wir uns bewusst darüber sind, dass die Ursachen dafür bei jenen liegen, die den kolonialen Extraktivismus und den neoliberalen Kapitalismus aufrechterhalten? Wir versuchen nicht, diese Frage zu beantworten. Doch vor diesem erschütternden und ungleichen Horizont bringt sie uns zu einer anderen Frage: Wie verbinden wir uns vor dem Hintergrund unserer unterschiedlichen Unterdrückungen als Frauen und Queers miteinander, vor allem als unterschiedlich Positionierte?

Für uns war der Glauben an eine kollektive feministische Kraft eine der Antworten auf die letzte Frage. Doch wie gesagt sucht diese Gemeinschaft nicht nach ihrer Gleichheit, sondern begreift sich als heterogen. Feministische Subjekte sind divers, sie kämpfen gegen Unterdrückungen und Gewaltformen, die miteinander verschränkt sind, ohne die eine über die andere zu stellen. So verstehen wir den Begriff der INTERSEKTIONALITÄT. Unter anderem das Geschlecht, die Ethnie und die Klasse sind Dimensionen, die uns durchdringen. Ein intersektionaler Ansatz ist also eine Antwort auf unsere koloniale, patriarchale und neoliberale Vergangenheit / Gegenwart.

Um einen transkulturellen und dekolonialen Feminismus zu entwickeln, müssen diese eingefahrenen Praktiken beseitigt werden.

Dieser Ansatz wächst aus der Notwendigkeit heraus, die Subjekte des Feminismus zu diversifizieren und zu pluralisieren. Er übt Druck auf die Feminismen des Globalen Nordens aus, auf die weißen und westlichen Feminismen: weil sie keine weiteren Dimensionen zulassen, weil sie auf ein homogenes Subjekt bestehen. Dank der Schwarzen und lateinamerikanischen Feminismen, dank ihrer / unserer Kämpfe, hat sich die Diskussion etablieren und bis heute weiterentwickeln können. Erfahrungen aus kolonisierten Räumen waren und sind für diesen Zweck fundamental. Die Frage des Blickwinkels; danach, wie wir beobachten, denken und beurteilen, was wir gleichzeitig am Körper erfahren, ist zentral. Denn wir können die Dinge nicht betrachten und benennen, wenn wir Paradigmen, Konstruktionen und Sprachen folgen, die sich nicht auf unseren Kontext, sondern auf diesen anderen, den kolonisierenden Ort beziehen. Dabei geht es nicht darum, unsere Gegenwart, unsere hybriden und mestizas Gegenwart, Körper, Identitäten, Subjektivitäten, Ideen und Praktiken zu leugnen, die zum kolonialen Erbe gehören. Stattdessen geht es darum, wachsam zu sein, um diese invasiven und räuberischen Logiken nicht zu reproduzieren.

Dieser Synkretismus, die Vermischung verschiedener Ideologien, von dem sie uns manchmal in der Schule erzählt haben, sitzt tief und sickert überallhin durch. Wir müssen also auch darauf blicken, von wo aus wir uns begreifen: von den feministischen Epistemologien aus, die wir immer öfter hören. Und wir müssen dringend in die Geschichte blicken, hin zu anderen Arten des Lebens, der Räume, der Körper und uns gegenseitig zu verstehen. Denn diese Vergangenheit hält noch immer an, diese gesellschaftlichen Strukturen und Konstruktionen sind unsere Gegenwart. Wenn wir zum Beispiel an das Geschlecht denken oder besonders an die Zweiteilung der Geschlechter, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Vorstellung in unserem Kontext mit einem auferlegten kolonialen, patriarchalen und kapitalistischen System Hand in Hand geht.

Die Binarität der Geschlechter, die Kernfamilie, die Reproduktion und die Fürsorge für die zukünftige Arbeitskraft erfüllen diesen Zweck: den Erhalt einer kolonialen Struktur genozidaler und extraktivistischer Prägung. Denn es ist bekannt, dass andere Geschlechter in präkolonialen indigenen Kosmovisionen ein Recht auf Leben hatten. Heute zeigt die trotzige, konservative, reaktionäre Kraft anderen Geschlechtern, Körperlichkeiten und möglichen Leben ihre Krallen und Zähne. Dies geschieht auch gegenüber anderen Familien und Konstellationen, die aus den biologischen und affektiv-sexuellen Strukturen ausbrechen. Diese Strukturen werden von Gesetzen aufrechterhalten, die für einige wenige gedacht sind. Sie beruhen auf der gesellschaftlichen Akzeptanz einiger weniger, ihrem Existenzrecht und ihrem Recht darauf, in Erscheinung zu treten.

Ein intersektionaler Ansatz ist eine Antwort auf unsere koloniale, patriarchale und neoliberale Vergangenheit / Gegenwart.

Das Recht darauf, in Erscheinung zu treten, mag uns seltsam und unverständlich vorkommen, als etwas Selbstverständliches und Offensichtliches – fast, als würden wir über Geister und Horrorhäuser sprechen. Aber es handelt sich um einen konkreten Kampf in der Geschichte und auch noch heute präsent: Als Frauen und Queers, als von Rassismus betroffene, arme, migrantische und weitere Personen stellen wir uns dem Kampf dafür, im öffentlichen Raum in Erscheinung treten zu können, dem Kampf für das Recht auf Existenz und auf ein Leben ohne Gewalt. Doch wir haben schon gesehen, wie öffentliche und staatliche Formen der Politik und die koloniale und patriarchale Kultur ein System geschaffen, gestützt und ausgeübt haben, das dieses Recht angreift. Es ist ein System, das direkte Anschläge auf unsere Leben begeht.

Bei diesem Gedanken hilft uns die Strömung des Posthumanismus aus feministischer Perspektive weiter: Die Idee, dass historisch gesehen alle Identitäten und Subjektivitäten, die nicht der hegemonialen Männlichkeit entsprechen – wir nennen sie “hegemonial”, weil Männlichkeiten divers sind – als nicht menschlich oder zumindest bis heute als weniger menschlich angesehen wurden. Das gilt auch für all jene historisch feminisierten Körperlichkeiten. Die Feminisierung verstehen wir hier nicht als das der Frau Zugehörige oder Eigene, sondern als jenes, das sich dadurch definiert, dass es nicht dieser hegemonialen Männlichkeit entspricht. Nicht menschlich zu sein bedeutet (und es lohnt sich, das zu wiederholen), keine Menschlichkeit und damit auch keine Menschenrechte zu besitzen. Es bedeutet, so viel wert zu sein wie etwas anderes, ähnlich den Tieren; den Pflanzen; allem, was nach Ansicht der Mächtigen, die darüber bestimmen, nicht den Wert und die Fürsorge eines Menschen verdient.

Der Kampf dafür, in Erscheinung zu treten, ist auch der Kampf dafür, erklären zu können, dass wir das Recht auf eine Stimme haben; darauf, uns einzeln und kollektiv zu äußern, vor den Augen aller in Erscheinung zu treten, ohne dabei etwas zu riskieren. Es geht auch darum, dass wir ein Recht auf Existenz haben, selbst wenn uns die Gefahr und die Bestrafung im Nacken sitzen. Es geht darum, uns nicht als unmenschlich oder weniger menschlich, sondern als postmenschlich zu begreifen. Noch weiterzugehen und uns zum Kom-Post zu erklären, wie jene organischen Abfälle, die laut Donna Haraway nur gemeinsam aus dem Tod wieder Leben schaffen können. Uns als eine Andersartigkeit zu verstehen; als anderes Ding; als etwas, das sich den Logiken des Unterdrückers, des Kolonialherren, des Patriarchen weder anpassen will noch muss. Es geht darum, in unserem Code zu sprechen, mit neuen Sprachen, um kollektive Realitäten zu verändern. Bis dahin werden sie weiterhin für uns sprechen, werden sie sich manchmal sogar dafür entschuldigen, es aber deswegen dennoch nicht lassen. Denn sie ertragen nicht, dass ihnen die Wörter wie pseudobewusstes Geschwätz aus dem Mund gerissen werden. Gleichzeitig werden wir Frauen und Queers weiterhin dafür kämpfen, auch in Zukunft in Erscheinung zu treten – aber nach unseren eigenen Regeln.

WIDERSTAND 

Schau mich an, ich existiere
Schau mich an, ich leiste Widerstand
Schau mich an...
und höre, was ich sage

Schau mich an, ich existiere
Schau mich an, ich leiste Widerstand
Schau mich an...
und höre, was wir sagen

Hier bin ich, entbehrlich
Hier bin ich, unsichtbar
Hier bin ich, ist es deine Entscheidung…
Hier bin ich, ob ich lebe oder nicht?

Hier bin ich, 
hier war ich
Hier war ich, 
hier bin ich 
Hier bin ich, 
hier war ich
Hier war ich, 
hier bin ich 

Hier 
Zerbrechen wir Käfige
Verbrennen wir Schweigen
Radieren wir Ränder aus
Stellen Peripherien in Frage 

Hier bin ich, ausgesetzt
Der Verletzung
und der Gewalt
Hier sind wir, 
wir sind Widerstand.

Hier bin ich, von der Zerstörung bedroht
Hier bin ich, stigmatisiert
Hier bin ich, kriminalisiert
Hier bin ich, was bin ich wert?

Unsere Stimmen, vorher stumm, 
stürzen los mit Kraft und Zorn 
Unsere Stimmen, vorher stumm, 
stürzen los mit Kraft und Zorn

Hier bin ich, ausgesetzt
Der Verletzung
und der Gewalt
Hier sind wir, 
wir sind Widerstand.

(Die fünfte und letzte Szene der Performance “Widerstand oder die Forderung nach einem kollektiven Recht”) 

Übersetzer Auszug aus: Lastesis, “Polifonías feministas”. Santiago de Chile: Random House, 2022. Aus dem Spanischen von Susanne Brust.

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