Blick zurück für heutige Kämpfe

Nicoleta Esinencu, Nora Dorogan und Tjaša Črnigoj im Gespräch mit Luise Meier

Das HAU-Festival “Every Day” bringt Künstler*innen verschiedener Generationen zusammen, die selbst andere Gesellschaftsordnungen und Systemwechsel erlebt haben – darunter die moldauischen Theatermacherinnen Nicoleta Esinencu und Nora Dorogan mit ihrem Kollektiv teatru-spălătorie und die in Ljubljana, Slowenien, lebende Regisseurin Tjaša Črnigoj. Im Gespräch mit der Ostberliner Autorin und Theatermacherin Luise Meiersprechen sie über den Begriff “Post-Sozialismus”, Quellen der Hoffnung und darüber, welche Ideen von sozialistischen Feministinnen der Vergangenheit noch heute wichtig sind.

Luise Meier: Ich würde gerne mit dem Titel des Festivals beginnen: “Every Day: Feministische Kämpfe im post-sozialistischen Europa”. Was bedeutet der Begriff “post-sozialistisch” für euch?

Nicoleta Esinencu: Nora und ich haben erst gestern über diesen Begriff diskutiert. Einerseits klingt er ganz schön, als wäre nach dem Sozialismus alles besser (lacht). Aber eigentlich beschreibt er nur den Kapitalismus. “Post-sozialismus” ist eher ein geografischer Begriff, aber die Realität ist “real-kapitalistisch” oder sogar ein stark beschleunigter Kapitalismus, wie wir ihn nach dem Zerfall der Sowjetunion erlebt haben.
Was wir im Moment, vor allem in unserer Region, erleben, ist, dass die Geschichte ausgelöscht wird. Sozialismus und Kommunismus werden bekämpft, als läge der Ursprung aller Probleme in der Sowjetunion. Als könnten wir nur eine Demokratie aufbauen, wenn wir unsere Geschichte auslöschen. Ich finde, darüber müssen wir wirklich sprechen, vor allem über die Zeit des Sozialismus und des Kommunismus, denn meiner Ansicht nach gibt es ein riesiges Missverständnis hinsichtlich dieser Begriffe. Ich halte es für sehr problematisch, Geschichte auszulöschen, nur die für die eigenen Zwecke nützlichen Aspekte herauszupicken, Geschichte einseitig zu interpretieren, zu verfälschen oder zu Propagandazwecken zu missbrauchen.

Tjaša Črnigoj: Ich würde den Begriff “Post-sozialismus” nicht unbedingt verwenden, aber ich interessiere mich sehr für das sozialistische Erbe in meinem Lebens- und Arbeitskontext. Im Laufe der letzten Jahre ist mir die Vergangenheit immer mehr bewusst geworden. Ich bin 1988 geboren, drei Jahre vor der Unabhängigkeit Sloweniens und dem Zerfall Jugoslawiens. Meine Generation hat in der Schule nicht viel über das frühere Staatssystem gelernt. Das hat wahrscheinlich etwas mit der Auslöschung der Vergangenheit zu tun.
Aber als ich begann, mich für Feminismus zu interessieren und einige feministische Autor*innen zu lesen, fing ich langsam an, mein Umfeld zu hinterfragen: Warte mal, ich lebe hier in Slowenien in einem ganz spezifischen Kontext, mit einer ganz spezifischen Geschichte und einem ganz spezifischen Erbe. Wie prägt das meine Perspektive? Es ist nicht dasselbe wie bei französischen oder amerikanischen Autor*innen. Ich habe mich gefragt: Was ist hier anders? Das ist eines der Dinge, die mich dazu gebracht haben, mich mit dem Kampf für die sexuellen und reproduktiven Rechte der Frauen in Jugoslawien auseinanderzusetzen. Eine Besonderheit bestand darin, dass der Kampf für Frauenrechte von oben geführt wurde und nicht von unten. Die Behörden beschlossen irgendwann, tätig zu werden, weil es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg große Probleme mit der sogenannten Abtreibungsepidemie gab. Abtreibung war damals illegal und Frauen hatten keinen Zugang zu Verhütungsmitteln. Es gab zwar Kondome, die aber nicht benutzt wurden. Im Falle einer ungewollten Schwangerschaft starben viele Frauen oder riskierten ihre Gesundheit durch illegale oder unsachgemäße Schwangerschaftsabbrüche. Daher beschlossen die Behörden, etwas dagegen zu unternehmen, und begannen, Verhütung zu fördern und Abtreibung schrittweise zu legalisieren. 1974 wurde das Recht auf Abtreibung und Verhütung in Jugoslawiens Verfassung verankert.
Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass die Frauen in Jugoslawien dazu ermutigt wurden, berufstätig zu sein. Die meisten Frauen aus der Generation meiner Mutter und meiner Großmütter gingen einer Lohnarbeit nach – neben ihrer Arbeit zu Hause als Mütter und Hausfrauen.
Auch wenn wir heute in Slowenien und in der ganzen Region in einem kapitalistischen System leben, ist das spezielle Vermächtnis des Sozialismus bis zu einem gewissen Grad immer noch präsent, was das Leben und Frausein hier sehr spezifisch macht.
 

”Meine Generation hat in der Schule nicht viel über das frühere Staatssystem gelernt. Das hat wahrscheinlich etwas mit der Auslöschung der Vergangenheit zu tun.“ Tjaša Črnigoj

Nora Dorogan: Man könnte Moldau als “post-sozialistisches” Land bezeichnen, aber für mich ist es ein Land, das seine sozialistische Vergangenheit verdrängt, leugnet und vehement auslöscht.

Luise Meier: Um darauf zurückzukommen, was Tjaša über berufstätige Frauen gesagt hat: Diese Erfahrung teilen die Frauen im Ostblock. Eine weitere gemeinsame Erfahrung war der Verlust des Arbeitsplatzes und der sozialen Absicherung, als der neoliberale Kapitalismus und die Austeritätspolitik auf den Plan traten. Der Hauptdiskurs westlicher Feminist*innen dreht sich jedoch immer noch um das Recht auf Arbeit, aus der Perspektive nicht arbeitender Frauen, und ignoriert damit auch die vielen Frauen aus der Arbeiter*innenklasse in ihren eigenen Ländern.
Das heißt, auch wenn wir sie nicht “post-sozialistisch” nennen, erfordert die Erfahrung des Abbaus des Wohlfahrtsstaats und der Austeritätspolitik nach 1990 einen Feminismus, der aus dieser spezifischen Perspektive heraus Kritik am eher individualistischen Ansatz des vorherrschenden westlichen Narrativs über feministische Kämpfe äußert. Heute gibt es Konzepte wie Girlboss-Feminismus. Aber es gibt auch sehr eindrückliche Bilder, die eine andere Geschichte erzählen, wie die von oft älteren Frauen aus Osteuropa, die in Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern Care-Arbeit für diese sogenannten Karrierefrauen oder Girlbosses leisten, die sich auf ihren Schultern emanzipieren können. Brauchen wir ein anderes Konzept von Feminismus, um diese Widersprüche in den Blick zu nehmen?

Tjaša Črnigoj: In meiner jüngsten Arbeit habe ich mich darauf konzentriert, bestimmte Aspekte des vorigen Systems hervorzuheben, die auch heute noch zum Nachdenken anregen oder Mut machen können. Besonders inspirierend finde ich die Bemühungen um die sexuellen und reproduktiven Rechte der Frauen. In unserer Performance “Sex Education II: Fight”, die wir im April 2024 im HAU aufgeführt haben, haben wir uns mit diesem Thema auseinandergesetzt. Jüngere Generationen sind sich dieser Kämpfe oft nicht bewusst, aber wenn sie etwas darüber erfahren, kann ihnen das die Augen öffnen. Ich glaube, der Blick zurück ermöglicht eine neue Perspektive auf ähnliche Kämpfe heute sowie einen wertvollen Einblick in eine Denkweise, die den Kapitalismus nicht als selbstverständlich und als einzig mögliches System betrachtet. 
Ein weiteres Thema, mit dem ich mich gerade beschäftige, ist der Feminismus der 1980er-Jahre in Slowenien und Jugoslawien. Eine der wichtigsten Errungenschaften von feministischen Gruppen in dieser Zeit ist Artikel 55 der slowenischen Verfassung, in der das Recht auf Abtreibung und Verhütung verankert ist. Als Slowenien 1991 unabhängig wurde, war dies der umstrittenste Artikel der neuen Verfassung. Einige Politiker wollten ihn streichen, und feministische Gruppen mussten hart dafür kämpfen, dass er bestehen blieb. Das Entscheidende daran ist, dass der Artikel so formuliert ist, dass Abtreibung und Verhütung in Slowenien nicht nur legal, sondern auch kostenlos sind. Dadurch werden sie für Frauen aus verschiedenen Schichten zugänglich, die über ganz unterschiedliche bzw. gar keine finanziellen Mittel verfügen. 
Mojca Dobnikar, ein Mitglied dieser feministischen Gruppen, hat einmal in einem Interview sinngemäß gesagt, dass Emanzipation – also unabhängig und erfolgreich zu sein – für sie nichts mit Feminismus zu tun hat. Eine Frau kann persönlich emanzipiert sein, aber gleichzeitig der gesellschaftlichen Stellung der Frau gleichgültig gegenüberstehen und nichts zu ihrer Veränderung beitragen. Ihre Gedanken inspirieren mich. Für mich geht es im Feminismus ebenfalls um Solidarität und eine intersektionale Perspektive.

“Die westlichen Gesellschaften verdrängen, dass sie alles, was sie wissen, eigentlich woanders herhaben.” Nicoleta Esinencu

Luise Meier: Nicoleta, in deiner Arbeit beschäftigst du dich viel mit den Klassenwidersprüchen im europäischen Kontext und der ausbeuterischen Beziehung zwischen osteuropäischen und westeuropäischen Ländern und deren Überschneidung mit feministischen Fragen. Inwiefern prägt das deine Arbeit, in der du nicht nur dein eigenes Land kritisierst, sondern auch das vorherrschende Narrativ von Europa als feministischer Bastion?

Nicoleta Esinencu: Die Botschaft, die mir von westlichen Gesellschaften vermittelt wird, lautet: “Ihr habt keine Ahnung. Ihr wisst nicht, was Feminismus oder Demokratie ist. Wir sind hier, um euch alles beizubringen und zu erklären.” Wenn man eine eigene Meinung hat, heißt es: “Du kannst keine Meinung zum Feminismus haben, denn der Feminismus gehört uns!” Die westlichen Gesellschaften verdrängen, dass sie alles, was sie wissen, eigentlich woanders herhaben. Dieses seltsame Machtverhältnis besteht bis heute.
Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht dieselbe Geschichte haben. Auch unsere feministische Geschichte unterscheidet sich. Wenn Westeuropa versucht, uns zu sagen, dass sie die wahre Geschichte des Feminismus geschrieben haben, tun sie genau das, worüber wir am Anfang gesprochen haben: Sie löschen unsere Geschichte aus. Es war aber auch unser Kampf und der Kampf unserer Mütter, unserer Großmütter und unserer Urgroßmütter. Ich glaube, wir haben in all dieser Zeit viel gelernt, aber auch viel verloren, und wir müssen darüber nachdenken, was wir durch die Auslöschung unserer sozialistischen Geschichte verloren haben. Es ist eine Menge Arbeit, die ganze Geschichte dieser Region zu verstehen und aus unserer feministischen Geschichte zu lernen. Zum Beispiel haben wir unsere internationale Solidarität verloren. Ich erinnere mich noch – auch wenn das heute vielleicht nicht mehr gern gesagt wird –, wie ich zu Sowjetzeiten in der Schule etwas über Frieden und internationale Solidarität gelernt habe. Und diese positiven Aspekte der sowjetischen Propaganda möchte ich nicht auslöschen (lacht).

Luise Meier: Gibt es spezifisch sozialistisch-feministische Ideale und Forderungen, die wir heute wiederbeleben könnten? Ich habe das Gefühl, der sozialistische Feminismus – so widersprüchlich er in seiner Verbindung zum Staatssozialismus auch war – hat sich auf Strategien der Kollektivierung von Care-Arbeit konzentriert, zum Beispiel auf staatliche Kinderbetreuung, staatliche Altenpflege oder das Teilen von Ressourcen ganz allgemein. Es herrschte die Vorstellung, dass die einzelne Frau nur dann gedeihen und sich emanzipieren kann, wenn es ein staatliches System gibt, das sie dabei unterstützt und diese traditionell sehr individualisierten Aufgaben übernimmt. Wie zum Beispiel eine garantierte Kinderbetreuung von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends oder darüber hinaus für Schichtarbeiter*innen. All diese Dinge wurden durch andere, dominantere feministische Forderungen, bei denen es nur um persönliche und individuelle Rechte ging, in den Hintergrund gedrängt. An welche Aspekte der verdrängten Geschichte könnten wir mit unseren heutigen Kämpfen anknüpfen?

“Wir können die Ideen der sozialistischen Feministinnen durchaus neu denken und an die heutige Gesellschaft anpassen.” Nora Dorogan

Nicoleta Esinencu: Wir müssen uns zusammentun. Ich glaube, darum geht es: gemeinsam zu kämpfen. Ziel des Kapitalismus ist es, uns zu spalten und den Individualismus voranzubringen, damit wir nicht in Gemeinschaften leben oder neue Gemeinschaften bilden. Es wird nicht mehr viel über internationale Solidarität geredet. Wir sagen schon seit Jahrzehnten, dass wir unsere Gemeinschaften stärken müssen.

Nora Dorogan: Moldau ist ein minimalistischer Staat; dort gibt es nur Austerität und Armut. Der Staat entzieht sich seiner Verantwortung für Bildung, Gesundheit und ähnliche Bereiche. Ich denke, wir können die Ideen der sozialistischen Feministinnen durchaus neu denken und an die heutige Gesellschaft anpassen. 
In unserer Arbeit mit dem Kollektiv teatru-spălătorie befassen wir uns oft mit der Gewalt des wirtschaftlichen Fortschritts und sogar mit der Gewalt einer Demokratie, die sagt: Du hast ein Recht auf Eigentum, du darfst zum Beispiel ein Haus besitzen. Schön, aber das Recht, ein Haus zu besitzen, bedeutet in einer neoliberalen, kapitalistischen Welt gar nichts, wenn man es sich nicht leisten kann. Man hat auch das Recht auf Arbeit. Aber bei einem Job in Chișinău verdient man vielleicht 150 Euro pro Monat. Es gibt also diese Rechte, aber eigentlich sind sie nichts wert, weil man davon nicht leben kann.

Nicoleta Esinencu: Manche haben das Recht, ein Haus zu besitzen, und andere haben das Recht, dieses Haus zu putzen. Das ist unsere aktuelle Situation.

Tjaša Črnigoj: Ich glaube, es ist entscheidend, sich an die Solidarität, oder an das, was von ihr übrig ist, zu erinnern und sie zu bewahren. Ich habe vorhin Artikel 55 der slowenischen Verfassung erwähnt; ich halte es für wichtig, seine Bedeutung anzuerkennen – nicht nur als ein Recht auf dem Papier, sondern als eines, das die Menschen tatsächlich ausüben können, weil diese Leistungen kostenlos sind. Dies war die hart erkämpfte Errungenschaft einer kollektiven Anstrengung, die wir niemals als selbstverständlich erachten sollten. In den Jahren seit der Unabhängigkeit Sloweniens hat es immer wieder Versuche gegeben, den Zugang zu Abtreibung und Verhütung einzuschränken oder Verhütung kostenpflichtig zu machen. Doch die Zivilgesellschaft hat sich gewehrt und diese Rechte erfolgreich verteidigt. Wir sollten also stets wachsam sein und bereit zu kämpfen.

“Ziel des Kapitalismus ist es, uns zu spalten und den Individualismus voranzubringen, damit wir nicht in Gemeinschaften leben oder neue Gemeinschaften bilden.” Nicoleta Esinencu

Luise Meier: Tjaša, in deiner Arbeit sprichst du mit Frauen aus verschiedenen Generationen. Wenn du sie über ihre Geschichten und Erfahrungen sprechen hörst, hast du dann das Gefühl, dass der Begriff des Fortschritts immer noch passend ist? Bestätigen ihre Erzählungen, dass die nachfolgenden Generationen mehr Freiheit und ein besseres Leben haben als die Generationen vor ihnen? Von welchen Erfahrungen berichten die verschiedenen Generationen von Frauen?

Tjaša Črnigoj: “Girls” ist eine Zusammenarbeit mit Kolektiv Igralke aus Rijeka, Kroatien. Die Performance konzentriert sich auf den kroatischen Kontext, der sich vom slowenischen unterscheidet. Seit dem Zerfall Jugoslawiens hat Kroatien eine Verfassung, in der das Recht auf Abtreibung und Verhütung nicht ausdrücklich verankert ist. Abtreibung ist dort zwar legal, aber viele Ärzt*innen und sogar Apotheker*innen weigern sich aufgrund persönlicher Überzeugungen, Eingriffe vorzunehmen oder Verhütungsmittel zur Verfügung zu stellen. Dadurch ist der Zugang zu Abtreibung und Verhütung ziemlich eingeschränkt und auch nicht kostenlos.
Die Performance dreht sich um vier Generationen von Frauen in Kroatien. Sie befasst sich mit ihren ersten sexuellen Erfahrungen, mit der Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft und mit der allgemeinen Erfahrung der Adoleszenz. Inspiriert wurde das Stück durch einen Artikel in einer Schüler*innenzeitung mit dem Titel “My Body, My Property” (“Mein Körper, mein Eigentum”) von Vita Tijan und durch Workshops mit Jugendlichen in Rijeka. Das Stück basiert auf den persönlichen Erfahrungen der Performerinnen sowie auf Interviews mit ihren um die 60-jährigen Müttern und ihren um die 80-jährigen Großmüttern. Anhand dieser persönlichen Geschichten offenbart das Stück die Retraditionalisierung der Gesellschaft. Es scheint, als würde die Jugendzeit zukünftiger Generationen in Kroatien eher jener der Großmütter der Performerinnen ähneln als ihrer eigenen oder der ihrer Mütter. Eine der Teenagerinnen, mit denen wir sprachen, war sich nicht einmal sicher, ob Abtreibung in Kroatien legal oder illegal ist. Wahrscheinlich rührt diese Verwirrung daher, dass Schwangerschaftsabbrüche trotz ihrer Legalität kaum zugänglich sind.

Luise Meier: Nicoleta und Nora, in eurem neuen Werk geht ihr noch weiter zurück als in die sozialistische Vergangenheit, um dort möglicherweise eine Hoffnung oder utopische Vision zu finden. Warum müssen wir so weit in die Vergangenheit zurückgehen, was können wir dort finden und wie hängt das mit unserer heutigen Situation zusammen?

“Manche haben das Recht, ein Haus zu besitzen, und andere haben das Recht, dieses Haus zu putzen.” Nicoleta Esinencu

Nora Dorogan: Als wir anfingen, uns eingehender mit dieser Geschichte zu befassen, erinnerten wir uns daran, was wir in der Schule über die historische Epoche der Cucuteni-Tripolje-Kultur gelernt haben, auf die wir hier in Moldau sehr stolz sind. Wir erfuhren zwar von ihrer Existenz, aber nie aus einer feministischen Perspektive. Doch dann stießen wir auf Marija Gimbutas Forschungen, denen zufolge dies eine Zeit des Friedens war, in der es keine Waffen gab; eine völlig andere Gesellschaft. Sie spricht nicht von einem Matriarchat, aber von Gleichberechtigung. Das hat uns inspiriert, vor allem in unserer heutigen Zeit der wachsenden Militarisierung der europäischen Länder. In Zeiten, in denen die Menschen glauben, es gäbe keine andere Möglichkeit, als so weiterzumachen wie bisher, und es gäbe keine Hoffnung, dem Kapitalismus ein Ende zu bereiten. In gewisser Weise müssen wir an diese Möglichkeit glauben, um ihn bekämpfen zu können. Der Kapitalismus ist nicht untrennbar mit der Geschichte der Menschheit verbunden, es gibt ihn vielleicht erst seit ein paar Hundert Jahren. Wir müssen ihn nur zeitlich verorten und sagen: Okay, deine Zeit ist abgelaufen. Wir müssen tief in die Vergangenheit zurückschauen, in der es Zeiten gab, in denen man in Frieden leben konnte.

Nicoleta Esinencu: In europäischen patriarchalen Gesellschaften hat sich schon immer alles um weiße Männer gedreht. Auch in “Dirty Laundry. The Trash Opera”, dem letzten Teil der Trilogie “Symphony of Progress”, an dem das Kollektiv teatru-spălătorie gerade arbeitet und der das Festival eröffnet, geht es um den “Urheber der Zivilisation”, den weißen Mann – der gleichzeitig auch der Urheber von wirtschaftlicher Gewalt, militarisierten Gesellschaften, Krieg und Völkermord ist. Wir müssen verstehen, dass diese Gewalt von der kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft ausgeht. Wir sollten zumindest das Recht haben, vom Frieden zu träumen.
 

“Der Kapitalismus ist nicht untrennbar mit der Geschichte der Menschheit verbunden, es gibt ihn vielleicht erst seit ein paar Hundert Jahren.” Nora Dorogran

Luise Meier: Nora, was du gesagt hast, erinnert mich an die neoliberale Devise, es gäbe keine Alternative zum Kapitalismus, die unser Denken so tief durchdrungen hat. Und dann erinnere ich mich an die Generation meiner Eltern und den Fall der Berliner Mauer, als sich alles für sie zu öffnen begann. Dabei kam das Gefühl auf – nicht durch den Sozialismus, sondern durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus –, dass es immer eine Möglichkeit zur Veränderung gibt: Nichts ist für immer und alles ist veränderbar. 
Diese Generation hat sich mittlerweile immer mehr mit der Tatsache abgefunden, dass der Kapitalismus für immer andauern wird. Dennoch denke ich manchmal, dass in dieser Erfahrung des Zusammenbruchs eines großen, scheinbar unzerstörbaren Systems vielleicht eine Quelle der Hoffnung liegt.
Apropos Quellen der Hoffnung: Tjaša, in deinem Werk geht es auch um Lust. Können diese Geschichten über weibliche Lust eine Quelle utopischen Denkens sein, oder können wir darin Hinweise für eine bessere Zukunft finden?

Tjaša Črnigoj: “Utopisch” ist ein großes Wort, das ich nicht verwenden würde. Meine jüngste Arbeit “Sex Education II” besteht aus einer Reihe von Lecture Performances, die dem Recht der Frauen auf sexuelle Lust gewidmet ist und auf Interviews mit Frauen basiert, die ihre persönlichen Geschichten mit uns geteilt haben. Sie haben über schöne Erfahrungen, aber auch über Probleme und weniger angenehme Erfahrungen gesprochen. Die Lecture Performances fußen auf der Praxis des Dokumentartheaters, wobei sich jeder Teil dem Thema mit unterschiedlichen theatralen Mitteln nähert. Meine Idee war es, Theatererfahrungen für relativ kleine Gruppen zu schaffen, die die Geschichten dieser Frauen hören, miterleben und sich künstlerische Interpretationen davon anschauen. Ich wollte ein warmes Gefühl des gemeinsamen Austauschs im Raum schaffen. Ich dachte, wenn uns als Gesellschaft stärker bewusst wäre, dass Frauen das Recht haben, ihrem Begehren nachzugehen – und dabei die Autonomie anderer zu wahren –, würde es weniger sexualisierte Gewalt gegen Frauen geben. Für mich ging es weniger um Hoffnung als um den Mut, sich verletzlich zu zeigen und eine Perspektive mit anderen zu teilen, die die gesellschaftlichen Erwartungen infrage stellt. Die Frauen, die ihre persönlichen Geschichten erzählt haben, waren sehr mutig, genau wie die Menschen, die für ihre Rechte gekämpft haben und immer noch kämpfen. Ich glaube, das hat die Menschen dazu inspiriert, ihre eigene Verletzlichkeit anzunehmen und einander in einem neuen Licht zu sehen. 

“Mir fehlt die Möglichkeit, den Fragen und Problemen, die uns wirklich betreffen, kollektiv zu begegnen, gemeinsam für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen.” Luise Meier

Luise Meier: Nicoleta und Nora, könnte die wirkliche grundlegende, präzise Kritik, die ihr in eurer Arbeit formuliert, und die Wut auf das System, die sie – zumindest in mir – hervorruft, vielleicht auch eine Quelle für eine utopische Vision sein? Was sind eure vielleicht ungeahnten Quellen der Hoffnung?

Nicoleta Esinencu: Wenn wir über Kollektivität sprechen, ist es sehr wichtig zu verstehen, dass wir nicht nur in einer Zeit des Individualismus, sondern auch der Entmenschlichung leben. Die Wirkungsweise des Kapitalismus macht es sehr schwer, etwas aufzubauen, Widerstand zu leisten, zusammenzustehen. Es ist okay zu akzeptieren, dass es manchmal keine Hoffnung gibt. Aber wir müssen trotzdem darüber sprechen, was um uns herum passiert, denn wenn wir aufhören oder es vermeiden, darüber zu reden, werden wir Teil des Problems. Wenn wir nicht über Zensur sprechen, werden wir Teil der Zensur. Wenn wir nicht über Völkermord sprechen, werden wir Teil des Völkermords. Die Liste geht endlos weiter. Das hat auch etwas mit Hoffnung zu tun. Wenn wir aufhören zu reden und anfangen, alles zu akzeptieren, verlieren wir unsere Hoffnung.

Nora Dorogan: Ich glaube, es ist wichtig, die Vergangenheit nicht zu vergessen und dafür zu sorgen, dass die Geschichten, aus denen wir lernen können, nicht vergessen werden. Wir müssen sie immer wieder in die Gegenwart bringen. Und es ist wichtig, weiterzukämpfen. Wir können uns auch die Welt, in der wir leben wollen, vorstellen und danach streben. Die Vorstellungskraft kann ein starkes Werkzeug sein.

Luise Meier: Für mich steckt in Arbeiten wie euren schon auch der Keim einer feministischen, kommunistischen oder postkapitalistischen Utopie. Selbst, wenn es sich dabei nicht explizit um Utopien, sondern um sehr kritische und präzise Analysen unseres Lebens und der uns umgebenden Strukturen in der Gegenwart handelt, wird mir dabei klar: Was mir fehlt, ist nicht mehr Konsum, ein neues Auto oder eine bessere Waffe zur Selbstverteidigung, sondern die Möglichkeit, den Fragen und Problemen, die uns wirklich betreffen, kollektiv zu begegnen, sie gemeinsam durchzuarbeiten, gemeinsam für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen.
Deine Arbeit über weibliche Lust, Tjaša, erinnert uns auch daran, wie einfach es sein könnte, einander kollektiv gute Gefühle zu bereiten. Sie erinnert uns daran, dass wir uns nicht vereinzeln, uns nicht dauernd um unser persönliches moralisches Image sorgen, uns voreinander schützen und miteinander konkurrieren müssen, sondern dass es auch eine kollektive Praxis ist, gegenseitig, miteinander und füreinander schöne Gefühle zu produzieren. Das wäre für mich die Keimzelle einer kommunistischen Utopie. 
Deswegen freue ich mich sehr auf eure neuen Arbeiten beim Festival im HAU. Danke für das Gespräch, eure Ideen und Inspiration!

Every Day
Feministische Kämpfe im post-sozialistischen Europa
Festival mit Nicoleta Esinencu & teatru-spălătorie, Selma Selman, Kolektiv Igralke & Tjaša Črnigoj, Anna-Marija Adomaitytė & Gautier Teuscher, Gosia Wdowik, Mikolt Tózsa, TATAR KYZ:LAR (allapopp & Dinara Rasuleva), Galina Ozeran & Daria Goremykina, Olga Shparaga, Marina Naprushkina, Antonina Stebur, Kateryna Mishchenko, Ewa Majewska, Leonie Steinl, Zorka Wollny u.a.

21.–29.3. / HAU1, HAU2, HAU3, HAU4

Zum Programm

Dieses Interview fand am 5.12.2024 via Videokonferenz statt.