Das HAU-Festival “Every Day” bringt Künstler*innen verschiedener Generationen zusammen, die selbst andere Gesellschaftsordnungen und Systemwechsel erlebt haben – darunter die moldauischen Theatermacherinnen Nicoleta Esinencu und Nora Dorogan mit ihrem Kollektiv teatru-spălătorie und die in Ljubljana, Slowenien, lebende Regisseurin Tjaša Črnigoj. Im Gespräch mit der Ostberliner Autorin und Theatermacherin Luise Meiersprechen sie über den Begriff “Post-Sozialismus”, Quellen der Hoffnung und darüber, welche Ideen von sozialistischen Feministinnen der Vergangenheit noch heute wichtig sind.
Luise Meier: Ich würde gerne mit dem Titel des Festivals beginnen: “Every Day: Feministische Kämpfe im post-sozialistischen Europa”. Was bedeutet der Begriff “post-sozialistisch” für euch?
Nicoleta Esinencu: Nora und ich haben erst gestern über diesen Begriff diskutiert. Einerseits klingt er ganz schön, als wäre nach dem Sozialismus alles besser (lacht). Aber eigentlich beschreibt er nur den Kapitalismus. “Post-sozialismus” ist eher ein geografischer Begriff, aber die Realität ist “real-kapitalistisch” oder sogar ein stark beschleunigter Kapitalismus, wie wir ihn nach dem Zerfall der Sowjetunion erlebt haben.
Was wir im Moment, vor allem in unserer Region, erleben, ist, dass die Geschichte ausgelöscht wird. Sozialismus und Kommunismus werden bekämpft, als läge der Ursprung aller Probleme in der Sowjetunion. Als könnten wir nur eine Demokratie aufbauen, wenn wir unsere Geschichte auslöschen. Ich finde, darüber müssen wir wirklich sprechen, vor allem über die Zeit des Sozialismus und des Kommunismus, denn meiner Ansicht nach gibt es ein riesiges Missverständnis hinsichtlich dieser Begriffe. Ich halte es für sehr problematisch, Geschichte auszulöschen, nur die für die eigenen Zwecke nützlichen Aspekte herauszupicken, Geschichte einseitig zu interpretieren, zu verfälschen oder zu Propagandazwecken zu missbrauchen.
Tjaša Črnigoj: Ich würde den Begriff “Post-sozialismus” nicht unbedingt verwenden, aber ich interessiere mich sehr für das sozialistische Erbe in meinem Lebens- und Arbeitskontext. Im Laufe der letzten Jahre ist mir die Vergangenheit immer mehr bewusst geworden. Ich bin 1988 geboren, drei Jahre vor der Unabhängigkeit Sloweniens und dem Zerfall Jugoslawiens. Meine Generation hat in der Schule nicht viel über das frühere Staatssystem gelernt. Das hat wahrscheinlich etwas mit der Auslöschung der Vergangenheit zu tun.
Aber als ich begann, mich für Feminismus zu interessieren und einige feministische Autor*innen zu lesen, fing ich langsam an, mein Umfeld zu hinterfragen: Warte mal, ich lebe hier in Slowenien in einem ganz spezifischen Kontext, mit einer ganz spezifischen Geschichte und einem ganz spezifischen Erbe. Wie prägt das meine Perspektive? Es ist nicht dasselbe wie bei französischen oder amerikanischen Autor*innen. Ich habe mich gefragt: Was ist hier anders? Das ist eines der Dinge, die mich dazu gebracht haben, mich mit dem Kampf für die sexuellen und reproduktiven Rechte der Frauen in Jugoslawien auseinanderzusetzen. Eine Besonderheit bestand darin, dass der Kampf für Frauenrechte von oben geführt wurde und nicht von unten. Die Behörden beschlossen irgendwann, tätig zu werden, weil es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg große Probleme mit der sogenannten Abtreibungsepidemie gab. Abtreibung war damals illegal und Frauen hatten keinen Zugang zu Verhütungsmitteln. Es gab zwar Kondome, die aber nicht benutzt wurden. Im Falle einer ungewollten Schwangerschaft starben viele Frauen oder riskierten ihre Gesundheit durch illegale oder unsachgemäße Schwangerschaftsabbrüche. Daher beschlossen die Behörden, etwas dagegen zu unternehmen, und begannen, Verhütung zu fördern und Abtreibung schrittweise zu legalisieren. 1974 wurde das Recht auf Abtreibung und Verhütung in Jugoslawiens Verfassung verankert.
Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass die Frauen in Jugoslawien dazu ermutigt wurden, berufstätig zu sein. Die meisten Frauen aus der Generation meiner Mutter und meiner Großmütter gingen einer Lohnarbeit nach – neben ihrer Arbeit zu Hause als Mütter und Hausfrauen.
Auch wenn wir heute in Slowenien und in der ganzen Region in einem kapitalistischen System leben, ist das spezielle Vermächtnis des Sozialismus bis zu einem gewissen Grad immer noch präsent, was das Leben und Frausein hier sehr spezifisch macht.