Nicoleta Esinencu ist eine Kämpferin. Die in ihrem Land das Reden und Nachdenken über Themen probt, die die Geschichte mit Steinen beschwert hat und die vielfach beschwiegen werden. Wie die Verleugnung und Diskriminierung von Homosexualität oder die Beteiligung an der Vernichtung der Juden. Und sie ist eine Botschafterin, die ihr Land, die kleine Republik Moldau, begrenzt von Rumänien und der Ukraine, immer wieder erklären muss, den anderen Europäern, in Deutschland zum Beispiel.
So kommt es, dass sie und ihr Theaterkollektiv Teatru-Spălătorie, das 2010 in der Hauptstadt Chisinau gegründet wurde, einerseits als eine kritische Instanz gegenüber dem eigenen Land gesehen werden, sie andererseits aber, in ihren Stücken und auf öffentlichen Podien für Verständnis wirbt für die Menschen, die für sie eben auch die Republik Moldau ausmachen und die sich von Europa und den eigenen Politkern verlassen und verraten fühlen. Das Publikum in ihrer Heimat ist ihr erster Adressat und trotzdem muss sie damit leben, für viele Produktionen auf Partner aus dem Ausland (darunter das HAU Hebbel am Ufer und das Goethe-Institut) und Gastspielreisen angewiesen zu sein.
1978 geboren, hat sie den Umbruch von der sowjetisch dominierten Zeit zur Unabhängigkeit, als Kind und Jugendliche erlebt. Wie Sprache zum Politikum wurde, wie, ob dein Name in russischer, rumänischer oder ukrainischer Fassung gesprochen wird, über Zugehörigkeit oder Ausgrenzung entscheidet, gehört zu den Erfahrungen, die sie als Dramatikerin und Regisseurin in ihre Stücke mit hinein genommen hat.
In Gesprächen wirkt die junge Frau mit den hellen Locken immer wach und beweglich. Sie hat ein feines Gehör dafür, wo sich im Alltag politische Konflikte spiegeln, sie sieht, möchte man fast sagen, den Menschen in die Herzen und spürt, wo der Schuh drückt.
Anfangs, 2005, als sie mit dem Monolog “Fuck You, Eu.ro.Pa”, der dem Nationalismus der ehemaligen Sowjetrepubliken ebenso wie dem Kapitalismus des Westens eine Abfuhr erteilte, bekannt wurde, galt ihre Sprache als drastisch, wütend, hart. Viele ihre Stücke aber, wie “Dear Moldova, can we kiss just a little bit?” über das Verbergen von abweichenden sexuellen Orientierungen in der Vergangenheit und Gegenwart, berühren gerade auch durch die Zärtlichkeit der Sprache. In “Life” wird eine ständig zusammenbrechende Telefonleitung zur letzten Verbindung zwischen einer älteren Frau, die im Ukraine-Konflikt in einer besetzten Stadt geblieben ist, und ihrer Tochter. Miteinander im Gespräch zu bleiben, ist ein sehr kostbares Gut, wie auch Esinencus Stücke immer wieder betonen. Es wird viel zu oft leichtfertig aufs Spiel gesetzt, wenn Nachbarn zu Feinden gemacht werden, auseinander dividiert längs ethnischer Grenzen.
Die Themen von Nicoleta Esinencu wiegen vielleicht schwer, ihre Theaterformen aber sind leicht gebaute Rahmen, um den Menschen darin zuzuhören und sie zu verstehen.
Katrin Bettina Müller
Nicoleta Esinencu (*1978, Chișinău, UdSSR / Republik Moldau) lebt und arbeitet als Autorin und Regisseurin in Chișinău. Ihre viel diskutierten Texte und Theaterprojekte betrachten die gesellschaftliche Realität in der Republik Moldau und die damit verbundenen Widersprüche der postsowjetischen Zeit unter einem kritischen Blickwinkel auf die gesamteuropäische Geschichte.
Nach einem Stipendium an der Akademie Schloss Solitude wurde sie mit “FUCK YOU, Eu.ro.Pa!” international bekannt und gewann den rumänischen dramAcum-Theaterpreis. 2005 wurde der Text im Reader des rumänischen Pavillons bei der 51. Biennale in Venedig veröffentlicht. 2009 folgte sie als eine von 16 Bühnenautor*innen der Einladung des Goethe-Instituts zum Projekt “After the Fall – Europa nach 1989”.
2010 war Esinencu Mitbegründerin des Theaterkollektivs teatru-spălătorie, das aus dem Bedürfnis heraus entstand, einen alternativen Kunstraum in Chișinău zu schaffen, in dem Künstler*innen im Bezug auf die politischen und sozialen Ereignisse in der Republik Moldau agieren und reagieren konnten. Da 2017 der Veranstaltungsort in Chișinău geschlossen werden musste, setzt das Kollektiv teatru-spălătorie seitdem die Arbeit ohne eigene Bühne fort.
Das HAU Hebbel am Ufer arbeitet seit 2012 kontinuierlich mit Nicoleta Esinencu und teatru-spălătorie zusammen. Mit “Clear History” waren sie im Rahmen des Festivals “Many Years After …” erstmals in Berlin zu Gast und anschließend bei “Good Guys Only Win in Movies” (2014) mit “American Dream” und “Dear Moldova, can we kiss just a little bit?” (gemeinsam mit Jessica Glause). Im Rahmen des HAU-Festivals “Die Ästhetik des Widerstands – Peter Weiss 100” (2016) feierte die Auftragsarbeit “Life” Premiere. 2019 feierten die HAU-Produktionen “Requiem für Europa” im Rahmen von “Comrades, I am not Ashamed of my Communist Past” und “Die Abschaffung der Familie” im HAU Premiere. Die Koproduktionen “Sinfonie des Fortschritts“ (2022) und “Playing on Nerves. A Punk Dream“ (2023) werden erneut vom HAU Hebbel am Ufer in Auftrag gegeben und touren seither international.
Die Autorin war mehrmals zu Gast auf der Leipziger Buchmesse und beim Internationalen Literaturfestival Berlin. Ihre Texte wurden ins Deutsche, Englische, Französische, Bulgarische und Polnische übersetzt und in Moldawien, Rumänien (bei IDEA), in Deutschland (bei Walther Koenig, Solitude Press), in Frankreich (L'Espace d'un instant), Bulgarien, Österreich und in Polen veröffentlicht. Das jüngste Werk “Gospel of Mary, the Trilogy” wurde im April 2021 vom Verlag L'Arche (Frankreich) veröffentlicht.
Zudem war Nicoleta Esinencu 2019 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. 2022 erhielten Nicoleta Esinencu und teatru-spălătorie den internationalen Tabori Preis.