Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas

Porträt

Struktur und Gefühl

Minimalismus und Tanz, das klingt nach einer eher trockenen, angestrengten Angelegenheit. Aber das ist es nie gewesen. Nicht bei der “Erfinderin”, der US-Amerikanerin Lucinda Childs, und erst recht nicht bei der belgischen Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker – die wohl als einzige legitime Erbin Childs gelten darf. Wenn man tief genug in eine Struktur eindringt, so hat Anne Teresa de Keersmaeker einmal gesagt, dann entsteht aus Struktur Gefühl. Pures Glück zum Beispiel. Wie in “Rain”, einem der vielen großen de Keersmaeker`schen Klassiker, 1976 zur Musik von Steve Reich entstanden, den für ihr Werk wohl wichtigsten Komponisten. “Rain”, das ist eine mathematische Versuchsanordnung mit unendlichen Wiederholungen von einzelnen, zeitversetzten Bewegungsphrasen, eine genaue geometrische Durchstrukturierung des Raums – und sie führen zum genauen Gegenteil. Zu Rausch und Gefühlen unendlicher Entgrenzung. 
In manchen Kulturen gibt es keine Unterscheidung zwischen Tanz und Musik. De Keersmaeker ist von dieser Vorstellung fasziniert. In ihren besten Stücken gelingt ihr das, die Unterscheidung zwischen Tanz und Musik wird aufgehoben, das eine geht im anderen auf. Möglich wird das durch de Keersmaekers musikalische Intelligenz und die akribischen Analysen, mit denen sie eine Kompositions-Struktur vollständig durchdringt. De Keersmaeker ist eine geradezu besessene Analytikerin, das sagt sie selbst von sich – und doch sind ihre Arbeiten zugleich von großer Zärtlichkeit und feinem Humor geprägt. Aus größtmöglicher Genauigkeit eröffnet sich die Choreografin die größtmöglichen Freiräume. Gerade auch da, wo sie sich unmögliche Aufgaben stellt. Wie etwa in “Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke”, ein Duett in dem sie die während des Ersten Weltkriegs zum Kultbuch der Landser avancierte, inzwischen eigentlich vergessene Rilke-Erzählung vertanzt. Anne Teresa de Keersmaeker ist Feministin. Ihre Kompanie Rosas, die sie 1983, im Alter von gerade mal 23 Jahren, gründete, bestand zunächst nur aus Frauen. Erst vier Jahre später, 1987, stießen auch Männer zur Kompanie. Und dann steht de Keersmaeker auf der Bühne und tanzt mit Hingabe Rilkes Heldentod verklärende Poesie, samt eines auch für damalige Verhältnisse fragwürdigen Frauenbilds. Aber de Keersmaeker setzt Haken, Grenzen, ungemein fein und subtil, wie nur sie es kann, die den Zwiespalt aufreißen zwischen der Faszination für die Sprachschönheit und ihren Inhalt. 
1982, mit 22 Jahren hat de Keersmaeker mit “Fase” zur Minimal-Music von Steve Reich ihr erstes großes klassisches Werk geschaffen. Nach einer zweijährigen Tanzausbildung in Maurice Béjarts Brüsseler Mudra-Schule und einem ebenfalls zweijährigen Aufenthalt in New York. Sie hat jung begonnen, ist gleich groß eingestiegen. Sie ist Leiterin ihrer Kompanie, seit 1995 leitet sie auch die von ihr gegründete internationale Schule für modernen Tanz P.A.R.T.S.  Müde hat sie das nicht gemacht. Im Gegenteil. Mit dem Alter, sagt sie selbst, werden die Möglichkeiten nicht geringer. Sie verändern sich nur. 

Michaela Schlagenwerth

Biografie

Rosas ist das Tanzensemble und die Produktionsstruktur rund um die Choreografin und Tänzerin Anne Teresa De Keersmaeker. Ihr Debüt “Fase, four movements to the music of Steve Reich” machte De Keersmaeker 1982 in der internationalen Tanzszene schlagartig bekannt. Seit 1983 hat sie mit ihrer eigenen Tanzkompanie ein beeindruckendes choreografisches Werk geschaffen. Rosas’ Tanz ist eine Schrift aus Bewegungen in Raum und Zeit. Zentral ist die Beziehung von Bewegung und Musik. Einige Produktionen widmen sich außerdem dem Verhältnis von Tanz und Text.

Rosas ist eine der wenigen freien Kompanien mit einem ständigen Ensemble. Anne Teresa De Keersmaeker hat sich bewusst für ein Modell entschieden, das über die Projektorientierung hinausgeht und die kontinuierliche intensive Arbeit mit jedem einzelnen Tänzer ermöglicht. In den großen Produktionen erscheint das gesamte Ensemble auf der Bühne. Darüber hinaus gibt es kleinere Produktionen, in denen De Keersmaeker selbst tanzt. Neben neuen Inszenierungen führt Rosas auch weiterhin das in dreißig Jahren erarbeitete Repertoire auf und ermöglicht so einer neuen Generation von Tänzern und Zuschauern Zugang zur künstlerischen Geschichte des Ensembles.

Rosas tritt an den führenden Orten für zeitgenössischen Tanz in Europa sowie weit darüber hinaus auf. Gleichzeitig ist der Kompanie die fortgesetzte Präsenz in Belgien sehr wichtig. Auf diese Weise unterstützt sie den nachhaltigen Aufbau eines Publikums sowohl in ihrer Heimat als auch im Ausland. Rosas sieht es ausdrücklich als ihre Aufgabe an, zur künstlerischen Bildung beizutragen, und hat über die Jahre partizipativen Projekten und Bildungsinitativen viel Aufmerksamkeit und Energie gewidmet. Aus einigen Projekten wie Bal Moderne, P.A.R.T.S. oder Workspacebrussels sind inzwischen eigenständige Organisationen geworden, die wiederum neue Initiativen wie Dancingkids oder Rondomdans ermöglicht haben.

Rosas betreibt ein offenes Haus und teilt seine Einrichtungen mit P.A.R.T.S., dem Ensemble für zeitgenössische Musik Ictus, Workspacebrussels, den Gästen des Sommerstudios und unzähligen Gruppen, die in den Räumen proben.

Mit dem Samuel H. Scripps American Dance Festival Award for Lifetime Achievement wurde Anne Teresa De Keersmaeker einer der wichtigsten Preise für ein Lebenswerk zugesprochen, den zuvor als einzige Europäerin Pina Pausch erhalten hatte.