Sarah Reimann: Wir wollen ganz am Anfang beginnen. “Loulu” wurde im Juni 2021 gelauncht. Und worum geht es in dem Projekt?
Caspar Weimann: “Loulu” ist eine interaktive Fiktion über rechte und antifeministische Netzwerke, es ist eine Art Handy-Spiel, das man sich kostenlos runterladen kann, um dann in ein Narrativ hineinzuschlüpfen. Und innerhalb dieses Narrativs begibt man sich in ein rechtsextremes und antifeministisches Rabbit Hole im Internet. Das Ganze ist eingeflochten in eine Rahmenhandlung um eine befreundete Influencerin, die Opfer einer Hass-Attacke wurde. Und zusammen mit dieser Influencerin und noch einer weiteren Person erforscht man, wer oder was hinter dieser Aktion steckt und merkt dabei: Das sind nicht irgendwelche einzelnen Personen, sondern ein rechtes Netzwerk, das mit gekonnten Medienstrategien versucht, Leute für sich zu gewinnen. Für mich ist das ein neues künstlerisches Projekt an der Intersektion zwischen Theater, Film, Medienkunst und immersiver App-Experience auf dem eigenen Smartphone.
Anni Reith: Im Game steckt viel Wissen über koordinierte Handlungen rechter Gruppierungen auf Social Media. Habt ihr mit externen Expert*innen zusammengearbeitet?
CW: Im onlinetheater.live beschäftigen wir uns damit, wie Gesellschaft und Politik auf digitalen Interaktionskanälen stattfindet. Im Kontext von “Loulu” haben wir uns damit befasst, wie rechte Netzwerke Algorithmen und Popkultur-Ästhetiken benutzen, um eine möglichst große Reichweite zu bekommen und Hetzkampagnen zu organisieren. Wir haben mindestens ein halbes Jahr recherchiert und uns immer wieder mit fünf Expert*innen getroffen, die uns Input gegeben haben. Dabei war Marie Rodewald, sie hat promoviert zum Thema Geschlechterinszenierung in der identitären Bewegung – also welche Rollenbilder es dort vorhanden sind oder welche Rollenbilder die Leute einnehmen, um andere zu fischen. Außerdem Jasmin Degeling, die Professorin ist und Seminare über digitale faschistische Bewegungen hält. Sarah Fartuun Heinze hat selbst ein Spiel zu einem eng verwandten Thema gemacht und konnte uns mit diesen Erfahrungen hilfreiche Tipps geben. Arne Vogelgesang war von Anfang an dabei, er kommt selbst aus dem Theater und kennt sich gut mit diesen Netzwerken aus. Und Mick Prinz von der Amadeu Antonio Stiftung, der das Projekt “Good Gaming – Well Played Democracies” leitet und sich mit Rechtsradikalisierungspräventionsarbeit in Computerspielen auseinandersetzt.
SR: Habt ihr erst mit dem Inhaltlichen begonnen und dann die App programmiert, oder fand der Prozess parallel statt?
Toni Minge: Zuerst gab es die Idee, dass das Game auf einer Plattform wie TikTok stattfindet, aber wir haben schnell gemerkt, dass wir mehrere Plattformen brauchen. Von anderen App-Projekten kannte ich das Verfahren des Design-Sprints, und so haben wir dann in fünf Tagen intensiver Arbeit und tausenden Post-it-Stickern den Prototypen entwickelt. Später im Prozess, als der grobe Plot feststand, konnte ich dann anfangen zu programmieren. Ich habe alle Texte in einer Datenbank angelegt, so dass wir die Dialoge noch verändern oder anpassen können.
“Es war uns ein Anliegen, rechte Narrative nicht ungefährlicher darzustellen, als sie sind. Wir wollten eine Form von Realitätsbezug herstellen.” Toni Minge
CW: Unsere Kollegin Luzia ist eine ehemalige Studentin von mir und wir haben uns in ihrem Studium intensiv mit Frauenfiguren aus rechtsextremen Netzwerken beschäftigt. Irgendwann haben wir entschieden, dass wir uns weiter damit beschäftigen möchten. Daraus ist eine große inhaltliche Recherche zu diesem Thema geworden. Dass ein Spiel in Form einer App daraus werden würde, entstand eher aus einer inhaltlichen Notwendigkeit heraus. Am Anfang haben wir noch überlegt, einen Blog oder ein Projekt auf Instagram zu machen. Dann haben wir aber gemerkt, auch im Gespräch mit Expert*innen, dass man bei diesem Thema extrem aufpassen muss. Denn alles, was in einem öffentlichen Raum, im Internet stattfindet, kann von rechten Netzwerken und Rechtsextremist*innen gehijackt werden, und davor mussten wir uns schützen. Deswegen haben wir einen Raum geschaffen, in dem wir die volle Gestaltungshoheit haben und in dem auch die Leute, die partizipieren, das Spiel für andere nicht mitgestalten können.
Im Kernteam haben vier Leute an dieser App gearbeitet, die alle komplett unterschiedliche künstlerische Biografien haben. Dadurch ist eine ganz besondere Arbeitsatmosphäre entstanden. Wenn Toni jetzt von Design-Sprints erzählt, dann ist das etwas, was mir bis dahin völlig fremd war. Aber es hat den Prozess sehr befördert. Eigentlich will ich jetzt nur noch so arbeiten: Mit Leuten, die aus unterschiedlichen künstlerischen Richtungen kommen, denn so ist eine tolle transdisziplinäre Arbeitsdynamik entstanden, in der alle extrem viel voneinander lernen.
SR: Könnt ihr noch mal ausführen, was so ein Design-Sprint ist und wie ihr die Methode auf künstlerisches Arbeiten übertragen habt?
TM: Man hat jeden Tag einen bestimmten Aufgabenstapel, den man zusammen abarbeiten muss. Am ersten Tag ist erst mal die Zielsetzung. Wir haben uns dann auf ein Ziel geeinigt, nämlich dass wir rechte Mechanismen aufdecken wollen. Am zweiten Tag haben wir überlegt, wie das Ganze aussehen soll, wie macht man zum Beispiel die App, wo setzt man die Knöpfe und was kommt wann. Am Donnerstag hatten wir dann den Prototypen zusammengeklickt und Freitag war der Tag zum Testen.
CW: Normalerweise kenne ich es aus der gemeinsamen Arbeit mit Gruppen anders: Das, was wir in der Woche geschafft haben, das wären drei Wochen Konzeptionsarbeit gewesen und irgendwie am Tisch sitzen und verzweifeln und so weiter. Ich hab mich fast ein bisschen falsch gefühlt, weil ich dachte, oh mein Gott, ich bin hier gerade in so einem komischen Start-up am Kapitalmarkt. Aber eigentlich war das total geil, wenn man das alles überträgt auf die Kunstproduktion münzt.
SR: Mich würde interessieren, wen ihr als Zielgruppe im Kopf hattet. Und für wen ist das Game nicht?
TM: Erstmal ist das Spiel nicht für Leute, die schon in rechten Netzwerken drin sind, die werden wir mit dem Spiel nicht wieder rausholen können. Auch nicht für Menschen, die sich schon tief in Radikalisierungsschleifen befinden, weil die im Spiel eine Form linker Propaganda sehen. Das Spiel ist an diejenigen gerichtet, die viel Zeit auf Social Media verbringen und Interesse daran haben, mehr darüber herauszufinden, wie Social Media funktioniert und wie sie vielleicht auch selber durch Filterblasen weiter manipulierbar sind. Das Spiel berührt Leute mit verschiedenen Erfahrungen auch emotional unterschiedlich. Wir haben uns ja dazu entschieden, rechte Narrative zu reproduzieren, um über rechte Narrative aufzuklären. Daher steckt eine misogyne, eine LGBTQI+-feindliche, teilweise auch rassistische und antisemitische Sprache im Spiel, die zwar kontextualisiert wird durch Handlungen im Spiel, aber sie taucht halt auf. Leute, die Diskriminierungen erfahren, werden davon mehr betroffen sein als andere, darauf weisen wir aber auch am Anfang mit einer Warnung hin. Es war uns ein Anliegen, rechte Narrative nicht ungefährlicher darzustellen, als sie sind. Wir wollten eine Form von Realitätsbezug herstellen, sowohl in dem, was wir da erzählen als auch wie wir die Sachen erzählen. Nichts im Spiel ist eigentlich von uns erfunden.
AR: Welche Reaktionen gab es auf die App?
CW: Die Reaktionen waren zahlreich, und auch für mich relativ überraschend, wie viele das waren. Am Anfang kam interessanterweise lange erst mal überhaupt nichts von Theatermedien, aber von nicht-theatralen Medien, linke Zeitschriften oder Blogs, z.B. Belltower News. Ziemlich schnell haben sich auch Stiftungen bei uns gemeldet, z.B. die Bildungsstätte Anne Frank, die Interesse hatte, das Spiel bei einem Workshop zu zeigen. Dann haben wir den Amadeu-Antonio-Preis 2021 gewonnen, was ein ganz großer Meilenstein war. Und es gab dann den Punkt, wo auch konservativere und große Medien darüber berichtet haben. Zum Beispiel gab es einen Fernsehbeitrag bei “titel, thesen, temperamente“, da ging es um rechte Influencer*innen, und da haben sie auch das Spiel “Loulu” empfohlen, weil die App auch Journalist*innen etwas ermöglicht, was bis dahin wenige andere Arbeiten ermöglicht haben. Weil es nämlich immer ein Problem war, über rechte Influencer*innen zu berichten, weil man automatisch für sie Werbung macht. Wenn man jetzt aber das Spiel “Loulu” benutzt, um über rechte Influencer*innen zu berichten, macht man nicht für existierende Influencer*innen Werbung, sondern kann über dieses Spiel als Beispiel reden, was wunderbar darüber aufklärt. Bei der FAZ hat eine Person einen riesigen Beitrag über rechte Influencer*innen geschrieben und da eben auch das Spiel erwähnt und auch Bilder aus “Loulu” genommen, als Beispiel-Bilder von diesen rechten Ästhetiken. Danach sind rechtsextreme Medien mit aufgesprungen, die über uns berichtet haben, die gegen uns Stimmung gemacht und dazu aufgerufen haben, negative Rezensionen zu schreiben. Auch Lehrkräfte haben sich auch bei uns gemeldet, die das Spiel im Unterricht einsetzen wollen. Und daraus ist dann die Idee entstanden, eine Weiterbildung zu entwickeln, in der Lehrkräften gezeigt wird, wie sie “Loulu” im Unterricht einsetzen können.
AR: Und gab es inhaltliche Diskussion auf Social Media?
CW: Wir wollten von vornherein keine großen Räume aufmachen, wo die Leute diskutieren können. Die Diskussion, die stattfindet, findet eigentlich im App Store statt – interessanterweise viel mehr auf Android-Geräten. Bei Android sind wir auch einen ganzen Bewertungspunkt schlechter, Menschen aus rechten Netzwerken scheinen eher Android-Telefone zu benutzen. Da findet viel Zerreißen statt und es gibt wieder andere Leute, die genau das Gegenteil schreiben. Das ist ganz funny, da gibt es innerhalb der Bewertungsspalte so einen kleinen Kampf um Deutungshoheiten.
“Es geht in diesem Spiel um Ästhetiken, um Mechanismen der Angliederung rechter Inhalte an die Popkultur.” Caspar Weimann
SR: Jetzt noch mal kurz zum Hier und Jetzt. Das Spiel ist ja jetzt schon über ein Jahr online und in der Zwischenzeit gibt es zum Beispiel eine große Mobilisierung von rechten Gruppierungen im Rahmen der Corona-Maßnahmen-Proteste, auch vor allem auf Social Media. Haben sich manche Dinge gesellschaftlich anders entwickelt, als ihr dachtet, und würdet ihr deshalb das Spiel heute anders gestalten?
CW: Also es gibt ein paar Sachen, wo das Spiel der Realität voraus war und die Realität hat jetzt das Spiel an den Stellen eingeholt. Ich glaube, wenn man das Spiel nur einmal spielt, dann entdeckt man nur einen Bruchteil von dem, was man alles entdecken kann. Zum Beispiel gibt es an einer Stelle irgendwann ein gefaktes Wahlwerbeplakat des Pendants der Grünen. Das Pendant der Grünen im Spiel ist die “Umweltpartei” und deren Kanzlerkandidatin heißt Anne-Kathrin Hirschreiter. Und das Spiel ist ja vor der Bundestagswahl entstanden und innerhalb des rechten Netzwerks im Spiel haben die Leute so eine Fake-News-Kampagne gegen Anne-Kathrin Hirschreiter aufgemacht. Einen Monat nach Veröffentlichung des Spiels kam diese “Grüner Mist”-Kampagne, wo auch so eine Fake-News-Kampagne gegen die Grünen entstanden ist. Das ist was, wo man gemerkt hat, ah ja, da hat das Spiel etwas vorausgesehen, was passiert – obwohl es natürlich Fake News-Kampagnen über Annalena Baerbock schon viel länger gab und damit auch durchaus misogyne Stimmungsmache entsteht. Und ich glaube, das große Ding, was sich verändert hat, ist die öffentliche Wahrnehmung von Telegram als Radikalisierungsplattform. Ein großer Teil des Spiels findet auf einer an Telegram angelehnten Plattform statt, die “Pling” heißt. Und im Spiel gibt es einmal den Moment, wo die Protagonist*innen über Pling sprechen, darüber, dass Pling endlich als soziales Netzwerk anerkannt wird. Da sind wir jetzt gesellschaftlich weiter. Und inhaltlich: Hinsichtlich der Art und Weise, wie rechte Netzwerke agieren, ist das Spiel schon damals nicht unbedingt auf dem neuesten Stand gewesen. Also zum Beispiel der Weg ins rechte Netzwerk, den man im Spiel geht – am Ende loggt man sich ja selbst in das Netzwerk ein – ist eigentlich etwas, das bis 2017 eigentlich nur möglich war. Heute sind die Leute in den Netzwerken viel vorsichtiger. Das ist aber nicht, worum es geht – sondern es geht in diesem Spiel eben um Ästhetiken, um diese Mechanismen der Angliederung der Inhalte an die Popkultur und so weiter, das ist der Hauptfokus. Diskurse von rechten Netzwerken oder Verschwörungsideologien beginnen heute ganz oft in den USA, bei QAnon zum Beispiel. Da müsste man jetzt darüber sprechen, wie in Deutschland versucht wird, die Debatte um Abtreibungen wiederzubeleben in europäischen Räumen. Oder man müsste darüber reden, wie in diesem durchaus faschistischen Mindset diese Blut-und-Boden-Theorie so eine große Rolle spielt, wenn man merkt, dass Putin seinen Krieg mit so Blut-und-Boden-Scheiße versucht zu rechtfertigen. Also da könnte man inhaltlich noch mal ein bisschen andere Schwerpunkte setzen, um den Aktualitätsbezug zu wahren.
SR: Zum Abschluss noch eine ganz offene Frage. Es gibt beim “Spy On Me”-Festival immer einen Untertitel. Dieses Jahr haben wir “New Companions”, also “Neue Begleiter*innen” gewählt. Wenn ihr an eure Technologienutzung oder euer künstlerisches Arbeiten denkt, was fällt euch dazu ein?
TM: Also für mich ist es die App an sich, dieses ganze Drumherum, das gemeinsame Arbeiten mit den Leuten, das ist jetzt für immer Teil unserer Vergangenheit. Wenn man das so pathetisch sagen möchte. Und weil da so viel Kraft und Überlegung und auch Herz drinsteckt, ist das ein schöner Begleiter, den man behalten möchte.
CW: Oh, das finde ich schön, da schließe ich mich an.
Im Programm von “Spy on Me #4”:
onlinetheater.live
Loulu / Gaming Session mit den Künstler*innen
30.9.+1.10.2022 / HAU2
Bild oben: NewfrontEars