Das 3hd-2020-Festival “UNHUMANITY” geht online zu Ende, nachdem in den vergangenen Monaten im Rahmen der diesjährigen dezentralen und ortlosen Festivalstruktur rund um den Globus Events und verstreute Projekte das Tageslicht erblickt haben. “Vessels” ist einer von zwei Abenden, die dieses Jahr in Kooperation mit dem HAU Hebbel am Ufer stattfinden. Der Abend geht einem System der menschlichen und nichtmenschlichen Kräfte auf den Grund, das sich um ein vernetztes Biotop aus Kunst, Musik, Performance und Digitalkultur und deren Beziehung zu der eher unklaren Vorstellung der Natur selbst rankt.
Unter dem Titel “Vessels” (“Gefäße”) ist der Abend des 6. Novembers dem Brückenschlag zwischen Technik, Ökologie und Menschheit mithilfe alternativer Körperbilder gewidmet. Videospiel-Design und die Ästhetik der Avatar-Gestaltung dienen als künstlerische Mittel, um politische Botschaften hervorzubringen und Welten zu entwerfen, in denen die Erfahrungen, Sorgen und Perspektiven von Künstler:innen und Zuschauer:innen gleichermaßen in den Mittelpunkt rücken. Das interdisziplinäre Kollektiv Keiken aus Berlin und London präsentiert mit “The Metaverse Womb” eine Verbindung aus neuer Medieninstallation, Projektion und Live-Motion-Capture-Performance, die in Zusammenarbeit mit der schwangeren Choreografin und Tänzerin Naama Tomaszpolski Ityel verwirklicht wird. Bei ihrem Auftritt wird Ityel eine maßgefertigte Version der HYDRA-Uniform der Künstlerin, Modedesignerin und Performerin AGF Hydra tragen. Keiken bringen an dem Abend die Figuren und realen Menschen aus dem eigenen, zusammen mit dem CGI-Künstler Ryan Vautier und der auch als Model tätigen Tänzerin und Aktivistin Sakeema Crook entstandenen Film “The Metaverse Womb” auf die Bühne. Bei der Aufführung wird die Software Off World Live genutzt, die ein interaktives und gamifiziertes Live-Streaming ermöglicht, während auf symbolischer Ebene auf die Schöpfung des Lebens und die Darbietung als ein Gefäß für alle Gender angespielt wird.
Der:die in Berlin und London lebende und arbeitende Schwarze trans Künstler:in, Aktivist:in, Spieleentwickler:in und Mutter Danielle Braithwaite-Shirley präsentiert ihre jüngste Arbeit “We Are Here Because of Those That Are Not”, die aus einem Film und einer interaktiven Performance besteht und einerseits an die vergessenen Ahnen der Black-Transbewegung erinnert, andererseits die Stellung von Black-Transpersonen im Hier und Jetzt behauptet. Mithilfe elektronischer Klänge und Animationen gestaltet Braithwaite-Shirley ein virtuelles Archiv von Schwarzen trans Körpern, denen bisher ein falscher oder gar kein Platz in den Archiven zugestanden wurde. Ausgehend von ihrer eigenen Lebenserfahrung, leistet die Künstlerin eine fantasievolle Nacherzählung von Trans-Geschichten und erobert so ihren vergessenen Vorläufern einen Ort zurück, den sie zugleich auch anderen Menschen öffnet, damit diese dort lernen können.
Keiken ist ein 2015 von den Künstler:innen Tanya Cruz, Hana Omori und Isabel Ramos gegründetes Kollektiv, das immer wieder auch mit anderen Künstler:innen zusammenarbeitet. Der Hintergrund der drei ist von vielfältigen Diaspora-Erfahrungen geprägt, unter anderen mexikanischen, japanischen, europäischen und jüdischen. Der Name Keiken ist dem japanischen Wort für “Erfahrung” entlehnt. Das Kollektiv nutzt Film, CGI-Technik, Spiele-Software, Installationen, Virtual/Augmented Reality, Programmierung und gamifizierte Performances, um in der Verschmelzung von Physischem und Digitalem (“Phygital”) spekulative Welten zu erschaffen. Durch die Simulation neuer Lebensstrukturen und -formen beleuchten die Künstler:innen, wie die gesellschaftliche Introjektion unser Fühlen, Denken und Wahrnehmen bestimmt.
Naama Tomaszpolski Ityel lebt als Tänzerin, Choreografin und Therapeutin für Somatik in Berlin. Ityel studierte an der Mate Asher Dance Academy und der SEAD (Salzburg Experimental Academy of Dance) und arbeitete mit Choreograf:innen wie der Emanuel Gat Dance Company, Colette Sadler, Anne-Mareike Hess und Shai Faran zusammen. Zu ihren jüngsten Choreografien gehört die Soloperformance “Tracy”, mit der sie durch Europa und Israel getourt ist und in Belgrad beim Festival of Choreographic Miniatures den dritten Platz erreichte und den Preis der Kritik gewann. Seit Kurzem führt Ityel Workshops zu visueller Erfahrung, sozialen Themen und Raum und Körper durch, für die sie auf Theoriewissen, visuelle Informationen und körperliche Praktiken zurückgreift. Neben ihrem künstlerischen Schaffen unterstützt sie als Therapeutin für Somatik Menschen bei ihren persönlichen Veränderungsprozessen und der Gestaltung sozialen Wandels. Als Dozentin für Feldenkrais, Tanzimprovisation und Yoga ist sie international tätig.
AGF HYDRA (alias Anna Gloria Flores) befasst sich mit der Möglichkeit kollektiven Wachstums auf einer gegenüber der physischen Realität höheren Bewusstseinsstufe. Die in London lebende Künstlerin, Designerin und Forscherin bewegt sich mit ihren regenerativen Performances und ihrer kollaborativen Schaffenspraxis auf dem Feld der körperlichen Erfahrungen und Fürsorgetechnologien. Als Gründerin von HYDRA, einem “phygitalen” Forschungsprogramm und Label, gestaltet sie in ihrer künstlerischen Forschung trainingsbasierte Simulationen einer multidimensionalen Realität, die es uns erlauben, gemeinschaftlich einen höheren Bewusstseinszustand zu entwickeln. Für “The Metaverse Womb” hat Flores eine biologisch abbaubare, anpassungsfähige, wasserfeste, pflanzenbasierte und chemisch behandelte Latex-Uniform entwickelt, die als Intervention zwischen Körper und Umgebung fungiert, indessen das digitale Gegenstück dazu durch physischen Input und Trackinginstrumente animiert wird und visuell auf den Körper reagiert, wobei die Empfindsamkeit mit der Erfahrung zunimmt.
Ryan Vautier erkundet in seinen animierten Welten die Bruchstellen zwischen Digitalem und Physischem. Ausgehend von dem Gedanken, dass uns gegenwärtig zwei getrennte Daseinsebenen offenstehen, erkundet der Londoner CGI-Künstler und Designer Informationen zu einer von dem digitalen Reich befeuerten Evolution und entwickelt parallel von der physischen Existenz inspirierte Arbeiten im Digitalen. Zu seinen jüngsten Aktivitäten gehört eine Residency mit Keiken in der Aspex Gallery in Portsmouth, Digital Spar, Dazed Beauty Wellness Week, Sex Quiz results und Which Crystal are you mit Rifke Sadleir, Dazed Beauty, Axel Arigato Socials und Videoarbeiten für den Rhumba Club. Vautier war an Projekten für 1975, Ms Banks, Grimes, Ben Ditto und Lucy Hardcastle beteiligt, außerdem waren Arbeiten von ihm 2016 bei Future Late in der Tate Modern, London, zu sehen.
Sakeema Crooks Arbeit erstreckt sich auf die Bereiche zeitgenössische Kunst, Werbung und Mode. Die auch als Model tätige Crook ging nach ihrem Abschluss an der London Contemporary Dance School als Tänzerin mit Inszenierungen von Shobana Jeyasingh, Fevered Sleep, Hubert Essakow, Alexander Whitley, Gandini Juggling und anderen auf Tour. Kürzlich wirkte sie im Southwark Center an der Uraufführung von Holly Blakeys neuer Arbeit “Cowpuncher My Ass” unter Beteiligung von Vivienne Westwood mit, zudem tritt sie seit der Eröffnung des ersten LGBTQIA+ Stripclubs Europas, dem Harpies, dort auf. Während sie in Quarantäne war, choreografierte sie ihr erstes Musikvideo und machte im Homeoffice Aufnahmen für weitere Projekte. Crook ist als Voguing-Tänzerin aktiver Teil der Londoner Ballroom-Szene und trat bei der London Queer Fashion Show und für Christian Louboutin auf, außerdem bei Glitterbox Ibiza und 2019 auf der Pyramid Stage in Glastonbury beim Konzert von Years and Years. Für Jerwood Arts Collaborate! arbeitete sie mit Keiken und George Jasper Stone zusammen.
Danielle Brathwaite-Shirley nutzt als Künstler:in vorrangig die Bereiche Animation, Sound, Performance und Videospiel, um den Erfahrungen als Schwarze trans Person Ausdruck zu verleihen. Brathwaite-Shirley zeichnet das Leben von Schwarzen trans Personen auf und verknüpft reale Erfahrungen mit fiktiven Elementen, um auf fantasievolle Weise trans Geschichten wiederzugeben. Angetrieben von dem Verlangen, die Geschichte von trans Personen in Gegenwart und Vergangenheit zu erzählen, stellt Braithwaite-Shirleys Arbeit eine Art trans Archiv dar, um die Erinnerung an Schwarze trans Personen für die Zukunft zu bewahren. Schwarze Queers und trans Personen wurden geschichtlich durchgehend aus den Archiven getilgt. Insofern müssen wir nicht nur unser Dasein archivieren, sondern auch die unzähligen kreativen Erzählungen, mit denen wir unsere Erfahrungen mitgeteilt haben und weiterhin mitteilen. Arbeiten von Braithwaite-Shirley waren in der Science Gallery, dem Barbican, der Tate und beim Les Urbaines zu sehen, außerdem im Rahmen der BBZ Alternative Graduate Show in der Copeland Gallery.
Kuration und Organisation: Creamcake. In Zusammenarbeit mit: HAU Hebbel am Ufer. Gefördert durch: Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa.