On the Integrity of the Body (Tag 2)
Im Rahmen von “Violence of Inscriptions. Ein Projekt von Sandra Noeth, Arkadi Zaides und HAU Hebbel am Ufer”
Die Frage – und die Forderung – nach der Unversehrtheit des Körpers steht im Zentrum der letzten Ausgabe von “Violence of Inscriptions”. Was bedeutet es, unverwundet, ohne Schaden und intakt zu sein, wenn Körper struktureller Gewalt ausgesetzt sind? Und was können wir den oft langsamen und indirekten Attacken gegen unsere eigenen und andere Körper entgegensetzen – sowohl ästhetisch, symbolisch und mit Worten? Ausgangspunkt des dreitägigen, dialogisch angelegten Präsentations- und Workshop-Programms ist die Praxis der internationalen Gäste aus Kunst, Theorie und Menschenrechts-Aktivismus: Tattoos, die Spuren von Gewalt überschreiben; das Filmen und Tanzen von Gesten und Körpern, die sich im Vergessen und Verschwinden befinden; das Schreiben, um die politische Stigmatisierung von Körpern sprechbar zu machen; oder der Versuch, Scham und Zurückweisung als Ausgangspunkte für künstlerisches Handeln zu bestimmen.
The concept of the nation state as a 'body' is prevalent in discourses of migration. Borders are described as 'porous', as though they were a person's skin; refugees and migrants 'seep' and 'flood' through them, threatening the 'host' with disease, pollution and infection. This metaphor produces several effects. Fears of communicable disease give rise to performative (and explicitly racist) constructions of people themselves being a 'disease' threatening the integrity of the 'native' population, with all that that implies. And although it might seem a simple shift from the idea of the boundaried body to the boundaried state, through this manoeuvre, the nation is reflected as an unproblematic, 'natural' entity, bordered by a natural and self-evident limit. Yet borders are not naturally grown, but violently inscribed upon global territory.
Sophie Nield setzt in ihrer Lecture aktuelle Diskurse rund um Flüchtlinge und Migranten in Beziehung mit spezifischen historischen Werken, nämlich Bram Stokers berühmt-berüchtigter Schöpfung von 1897, Graf Dracula. Zu einer Zeit, in der Nationalstaaten sich stark im Wandel befanden und innerhalb Europas große Wanderbewegungen stattfanden, verlieh das Bild des Grafen Dracula kulturell begründeten Ängste vor dem Anderen, vor Ansteckung und Verunreinigung, Gestalt. Anhand des Bildes des Vampirs, der zugleich in den Körper seines Opfers aber auch in den Staatskörper eindringt, lässt sich exemplarisch die bis heute fortdauernde Wirksamkeit von Metaphern in der kulturellen Imagination von Staat, Körper und Migrant zeigen.
Dr. Sophie Nield lehrt Theater und Film an der Fakultät für Drama, Theater und Tanz des Royal Holloway College, University of London. Sie veröffentlicht zu Fragen von Raum, Theatralität und Repräsentation in Politik und Rechtswesen und zur Performativität von „Grenzen“ unterschiedlicher Art. In ihrer aktuellen Arbeit beschäftigt sie sich insbesondere mit der Figur des Flüchtlings, der Theatralität von Protest und der politischen Funktion von Aufständen. Dabei schlägt sie interdisziplinäre Brücken zwischen Performance Studies, Politik und Geschichte.
Seth M. Holmes zeigt, was für verheerende Folgen gegenwärtige Formen des Kapitalismus, ethnische Benachteiligung und die Diskriminierung von Immigranten auf die Gesundheit und den Bereich der medizinischen Versorgung haben. Dabei stützt er sich auf seine fünfjährigen Feldforschungen, bei denen er unter anderem als Erdbeerpflücker und Wanderarbeiter gemeinsam mit MigrantInnen zwischen Oaxaca, Mexiko, und der Westküste der Vereinigten Staaten pendelte. Seine Beobachtungen zu den Auswirkungen von struktureller und symbolischer Gewalt, Medikalisierung und dem klinischem Blick auf verschiedene Gruppen setzen an einem Querschnitt durch die Gesellschaft an: von indigenen mexikanischen Arbeitsmigranten, Landbesitzern, Ärzten und Krankenschwestern. Er zeigt, wie die Annahme, dass medizinische Versorgung vom sozialen Stand und den ethnischen Zugehörigkeiten abhängen, zunehmend den medizinischen Sektor bestimmen. Der Vortrag schließt mit der Aufforderung, sich selbst Gedanken über mögliche Maßnahmen gegen strukturelle und symbolische Gewalt zu machen, um deren schädlichen Einfluss auf Immigranten und andere Arbeitskräfte (nicht nur) im Ernährungssektor einzudämmen.
Seth M. Holmes ist Assoziierter Professor für medizinische Anthropologie, Gesellschaft und Umwelt an der University of California Berkeley und praktiziert als Arzt am Highland Hospital in Oakland. Er ist Ko-Verantwortlicher für das MD/PhD-Programm für medizinische Anthropologie der University of California San Francisco und der UC Berkeley und einer der Gründungsdirektoren des Berkeley Center for Social Medicine. In seinen kollektiven Forschungsprojekten beschäftigt er sich mit Fragen struktureller und symbolischer Gewalt mit einem Schwerpunkt auf Immigration, Flucht und aktuellen Phänomenen des Kapitalismus. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Aufsätzen hat er eine umfassende Monografie veröffentlicht und arbeitet momentan für einen Dokumentarfilm mit mexikanischen Immigrantenfamilien in den Vereinigten Staaten zusammen. Daneben engagiert er sich in einem Kollektiv aus medizinischen Fachkräften und Bürgern, das neue Strukturen entwickelt, um allen Menschen die gleiche medizinische Versorgung zu gewährleisten. Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen in Disziplinen wie Anthropologie, Soziologie, Geografie und Lateinamerika-Studien gehört unter anderem der Margaret Mead Award.
Jorge Leóns Intervention im Rahmen von Violence of Inscriptions basiert auf seiner Arbeit zum Thema Unsterblichkeit, die er gegenwärtig entwickelt. Ausgangspunkt seiner Recherche sind der Transhumanismus und seine grundlegenden Ideen. Eine erste Etappe des Projekts präsentierte Jorge León am Kaaitheater in Brüssel in Kollaboration mit Wesen, deren körperlicher Zustand von Krankheiten geschwächt ist, für die die Wissenschaft noch keine Therapie gefunden hat. Gemeinsam mit anderen Künstlern und Performern erkundete er Fragestellungen zum Wert des Körpers und der (Un-)Möglichkeit, dem Körper Unsterblichkeit zu verleihen, indem man ihn in einen Kunst-Körpert transformiert. In dem fortdauernden Kollektivwerk „Still Standing (in progress)“ wird die Vorstellung vom „erweiterten Menschen“ wörtlich genommen und letztlich der transhumanistische Leitspruch – „Der Tod ist eine Krankheit, die eines Tages geheilt wird.“ – infrage gestellt.
Jorge León studierte Film am INSAS in Brüssel, wo sein Interesse an dokumentarischen Praktiken geweckt wurde. Seine Begegnungen mit außergewöhnlichen darstellenden Künstlern wie, unter anderen, Meg Stuart, Benoît Lachambre und Simone Aughterlony führten zu verschiedenen gemeinsamen Projekten. Seine letzten Filme – „Before We Go“ (2014), „Vous êtes servis“ (2010) und „10 min.“ (2009) – wurden international gezeigt und mit einer Reihe von Preisen ausgezeichnet, darunter 2015 den FIPRESCI-Preis der internationalen Vereinigung von Filmkritikern und Filmjournalisten. Auf dem Kunstenfestivaldesarts in Brüssel präsentierte Jorge León neben seinem Film „Vous êtes servis“ die Performance „Deserve“, eine Gemeinschaftsarbeit mit Simone Aughterlony. Die beiden Künstler führten ihre Kollaboration mit dem Stück „Uni*Form“ fort, das 2015 beim Zürcher Theater Spektakel uraufgeführt wurde. Im Mai 2018 stellte León beim Kunstenfestivaldesarts eine Bühnenfassung von „Mitra“ vor, der im Herbst eine Filmversion folgen wird.
Im Anschluss: Gespräch mit Sophie Nield, Seth Holmes und Jorge León.
Ein Projekt im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Zwei markierte Parkplätze vor dem Haus vorhanden. Zugang zum Parkett über separaten Eingang mit Lift möglich. Barrierefreie Sanitäranlagen vorhanden. Tickets für Rollstuhlfahrer*innen und Begleitpersonen sind über das Ticketingsystem buchbar. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an unser Ticketing- & Service-Team unter +49 (0)30 259004-27 oder per E-Mail an
tickets@hebbel-am-ufer.de.