On the Integrity of the Body (Tag 3)
Im Rahmen von “Violence of Inscriptions. Ein Projekt von Sandra Noeth, Arkadi Zaides und HAU Hebbel am Ufer”
Die Frage – und die Forderung – nach der Unversehrtheit des Körpers steht im Zentrum der letzten Ausgabe von “Violence of Inscriptions”. Was bedeutet es, unverwundet, ohne Schaden und intakt zu sein, wenn Körper struktureller Gewalt ausgesetzt sind? Und was können wir den oft langsamen und indirekten Attacken gegen unsere eigenen und andere Körper entgegensetzen – sowohl ästhetisch, symbolisch und mit Worten? Ausgangspunkt des dreitägigen, dialogisch angelegten Präsentations- und Workshop-Programms ist die Praxis der internationalen Gäste aus Kunst, Theorie und Menschenrechts-Aktivismus: Tattoos, die Spuren von Gewalt überschreiben; das Filmen und Tanzen von Gesten und Körpern, die sich im Vergessen und Verschwinden befinden; das Schreiben, um die politische Stigmatisierung von Körpern sprechbar zu machen; oder der Versuch, Scham und Zurückweisung als Ausgangspunkte für künstlerisches Handeln zu bestimmen.
Zhenya Zakhar ist Tätowiererin und lebt in Ufa, der Hauptstadt der Republik Baschkortostan. Ihren ursprünglich autodidaktischen Ansatz hat sie heute zu einer politischen Tätowierkunst weiterentwickelt, in der Kunst und Aktivismus ineinandergreifen, und mit der sie sich an Frauen richtet, die mit Erfahrungen mit häusliche Gewalt konfrontiert sind. Sie sagt: „Von Anfang an kamen viele Frauen mit Narben zu mir, doch sie waren nur ‚Kundinnen‘, die nach dem Tätowieren wortlos wieder gingen. Doch seit ich die Narben der Frauen umsonst mit Tattoos überdecke, erzählen sie mir ihre Geschichten. Jedes Mal, wenn eine Narbe unter einem Tattoo verschwindet, fangen sie an zu weinen. Und auch ich muss weinen. Selbst wenn die Narbe nur winzig ist, bestimmt sie das Selbstbild der Frauen. Meine Aufgabe ist es also, den Frauen zuzuhören und ihnen und ihren Körpern zu helfen, sich neu auszurichten.“ In ihrer Präsentation wird Zhenya Zakhar ihre Arbeit und deren kulturellen Kontext vorstellen. Davon ausgehend stellen sich generelle Fragen, die die Unversehrtheit und die Verletzlichkeit von Körpern und den Status des Ästhetischen angesichts häuslicher Gewalt betreffen.
In seiner Präsentation stellt der Künstler Tom Tlalim seine Arbeit mit Trägern von Cochlea-Implantaten vor und fragt, ob wir unsere Subjektivität und unsere sinnlichen Erfahrungen schon bald nur noch vermittelt erleben werden. Oder wird der menschliche Sinnesapparat bald zu einem Schlachtfeld, auf dem Gesundheitsdienste, biomedizinische Industrie und Finanzwesen um Einfluss ringen? Von den biopolitischen Fragen schlägt er eine Brücke zu der umfassenderen Debatte über körperliche Unversehrtheit und greift dabei auf Beispiele aus seinem Projekt „Tonotopia: Musik für Cochlea-Implantate“ zurück, das gegenwärtig in der Ausstellung „The Future Starts Here“ im Londoner Victoria and Albert Museum zu sehen ist. Die Arbeit umfasst Aufnahmen von Interviews, Sound-Artefakte, Objekte, Geschichten und Erlebnisse, die für die Beteiligten in ihrer Gewöhnung an die hybride Klangwahrnehmung Bedeutung erlangten.
Cochlea-Implantate sind die ersten kommerziell vertriebenen sensorischen Prothesen. Sie ermöglichen es Menschen mit stark eingeschränktem Hörvermögen, distinkte Laute und Geräusche wahrzunehmen. Die Implantate bestehen aus einer langen Elektrode, die durch ein Loch im Schädel in die Cochlea, in das Innenohr, eingeführt wird, einer Empfangsspule, die unter der Haut platziert wird, und einem digitalen Prozessor, der mithilfe von Algorithmen Laute analysiert und in elektrische Spannung umwandelt. Nicht selten geht bei dem invasiven chirurgischen Eingriff die natürliche auditive Sinnesausstattung gänzlich verloren, um dann durch die Elektrode ersetzt zu werden, die elektrische Impulse an die freigelegten Nervenenden sendet. Da die Implantate auf die menschliche Sprache abgestimmt sind, nehmen die Träger Musik und komplexe Klänge als hart und dissonant wahr. Mit der zunehmenden Verbreitung der Cochlea-Implantate wird davon ausgegangen, dass sie sich künftig mit dem mobilen Internet verbinden können, standortbezogene Daten senden und Cloud-Computing und Künstliche Intelligenz nutzen werden können. Schon in naher Zukunft dürfte es also möglich sein, dass im Ohr selbst eine Simultanübersetzung produziert wird, indes unsere Sinneswahrnehmungen zunehmend durch digitale Prozesse vermittelt werden.
Tom Tlalim ist Künstler, Musiker und Autor und widmet sich in seinen Arbeiten dem Verhältnis von Sound und politischer Macht. Sein Schaffen umfasst Installationen, Klangkunst, Filme und Texte. Für seine kürzlich abgeschlossene Dissertation am Goldsmiths College, „The Sound System of the State“, erhielt er ein Vollstipendium der Mondrian Foundation. In seinen Werken stellt er Sound-Artefakte, Stimmen und Räume als Instrumente der Ideologie vor. Tlalim hat Master-Abschlüsse in Komposition und Sonologie und lehrt als Dozent an der Kunstfakultät der Universität von Winchester. Tlalims vielfach ausgezeichneten Arbeiten werden regelmäßig in Ausstellungen weltweit gezeigt, zuletzt etwa in „The Future Starts Here“ im Londoner Victoria and Albert Museum, „Art in the Age of Asymmetrical Warfare“ im Witte de With in Rotterdam, „Hlysnan“ im Casino Luxemburg, im Strom Den Haag und auf der Architekturbiennale Venedig (zusammen mit Susan Schuppli/Forensic Architecture) und der Biennale in Marrakesch. Beim Internationalen Filmfestival Rotterdam wurde er für den Tiger-Award nominiert. Seine Gemeinschaftsarbeiten mit dem Choreografen Arkadi Zaides werden weithin gezeigt und von der Kritik gefeiert.
– Pause bis 21:00 –
„Ich habe einmal gehört, das erkrankte Organe, die in Krankenhäusern vom Körper des Patienten entfernt werden oder Körperglieder, die amputiert werden, anschließend verbrannt werden. Das brachte mich auf eine teuflische Idee.“
Einen Leichnam einäschern zu lassen ist im Libanon wegen religiöser Bestimmungen unmöglich. In „Appendix“ berichtet die Autorin, Regisseurin und Schauspielerin Lina Majdalanie von ihrem radikalen Entschluss, das Gesetz zu umgehen und ihren Körper dennoch dem Feuer zuzuführen: Sie will sich nach und nach all ihre Organe entfernen, die Gliedmaßen amputieren lassen und sie als Kunstobjekte verkaufen. Die Konsequenz, mit der die Performerin diese Gedanken verfolgt und dabei den Blick auf jene Gewalt, die Religion und Staatsmacht auf den Körper des Individuums ausüben, fasziniert und konfrontiert. Wie in ihren vielen Kooperationen mit Rabih Mroué verschwimmen auch hier die Grenzen zwischen persönlichem Leben, Kunst und Politik.
Dank an: Fadi Abdallah, Albert Abi Azar, Mansour Aziz, Rémi Bonhomme, Toni Chakar, Lama Charafeddine, Ali Cherri, Marie Collin, Joanna Hadjithomas, Hatem Imam, Khalil Joreige, Bernard Khoury, Krystel Khoury, Nathalie Khoury, Jalal El Mir, Tarek Mrad, Hania Mroué (Cinema Metropolis Beyrouth), Rabih Mroué, Walid Raad, Celesta Rottiers, Hussein Saleh, Andrée Sfeir (Galerie Sfeir-Semler), Mounira El Solh, Christine Tohmé und Jalal Toufic.
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Ein Projekt im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
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