Über Kollektivität
... oder wie überlisten wir den Kapitalismus? In Zeiten brüchiger Arbeitsbiographien erscheint das Kollektiv als eine Möglichkeit von Kontinuität und Teilhabe, als ein immaterieller Ort und als ein Stück gemeinsam geteilter Lebenswirklichkeit. Das "Wie" um Form und Inhalt unterliegt im Alltag einer ständigen Verhandlung in einem vielstimmigen Konstrukt. Vielleicht ist gerade diese Vielstimmigkeit und das sich zueinander in eine direkte Beziehung setzen, um als Gemeinschaft zu überleben, auch als eine Schutzmaßnahme zu begreifen gegen gesellschaftliche Forderungen nach Flexibilität, Eigenverantwortung, Kreativität und Selbstverwertung. Forderungen, die nicht nur auf das Subjekt des Einzelkünstlers sondern seit den 1990er Jahren zunehmend auf alle arbeitenden Subjekte zielen. Das Kollektiv nimmt sich demgegenüber die "Freiheit" heraus, die Gruppe über das Einzelwesen und damit das Soziale über das Ökonomische zu stellen.
Gob Squad laden ein sich über Möglichkeiten, Widrigkeiten und Grenzen kollektiver Arbeitspraxis und gesellschaftlich relevante Themen wie Selbst- und Fremdbestimmung, Gleichberechtigung, Teilhabe und Gemeinschaft in Zeiten einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche in einem klar abgesteckten, aber spielerischen Set up – im Bühnenbild von Before Your Very Eyes, einem einseitig verspiegelten Raum mit angrenzenden Videoleinwänden – auszutauschen. Das Wohnzimmer des Bühnenbildes schafft für diese Begegnungen einen Rahmen, der die privat anmutenden Begegnungen für eine Öffentlichkeit teilbar macht.
Statements von und eine Gesprächsrunde mit Friederike Habermann (Ökonomin und Historikerin), Mieke Matzke (Theaterwissenschaftlerin), Juliane Rebentisch (Philosophin) und Kai van Eikels (Theaterwissenschaftler), moderiert von Patrick Wildermann und bewirtschaftet von Gob Squad .
Und ein Videointerview mit Richard Sennett (Soziologe).
Über die Gäste und ihre Thesen
Friederike Habermann
Mit jeder Person, mit der wir zu tun haben, sind wir anders. Und sind dabei anders als jede andere Person. Wir machen Sachen anders. Und wir machen unterschiedliche Sachen unterschiedlich gern, ja, machen vielleicht nicht gern oder gar nicht gern, was eine andere gern oder sehr gern tut.
Wenn wir das Unterschiedliche-Sachen-machen zusammen tun – mal mehr aus Lust, mal mehr aus Notwendigkeit, doch immer als Bedürfnis – kommt vielleicht eine andere Welt dabei heraus...
Friederike Habermann ist Volkswirtin sowie Historikerin und hat in Politik promoviert. Eine Universitätskarriere war ihr zu einzelkämpferisch, deshalb lebt sie heute als freie Wissenschaftlerin in einem Projekt im Wald bei Berlin. Dort widmet sie sich in Theorie und Praxis u.a. dem Thema Anders Wirtschaften.
Mieke Matzke
Kollektives Produzieren (nicht nur in den Künsten) ermöglicht auf struktureller wie sozialer Ebene neue Formen der Zusammenarbeit. Erstens verspricht es eine größtmögliche Autonomie bei der Entwicklung von Arbeitsstrukturen und gegenüber den Anforderungen einer kapitalistischen Gesellschaft. Zweitens eröffnet das kontinuierliche kollektive Arbeiten anders als zeitlich begrenzte Organisationsformen einen Raum, um stetig die eigenen Bedingungen und Möglichkeiten des Produzierens zu verhandeln. Möglich wird damit die eigenen Formen der Institutionalisierung immer mit zu reflektieren und wenn notwendig zu ändern.
Mieke Matzke ist Theaterwissenschaftlerin und Performance-Künstlerin. Sie ist Mitglied des Performance-Kollektivs She She Pop und Professorin für experimentelle Formen des Gegenwartstheaters an der Universität Hildesheim. Ihr Buch Arbeit am Theater (Bielefeld 2012) untersucht theatrale Arbeitstrukturen und Probenorganisation im historischen Vergleich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Performance-Art, Theorie der Theaterprobe, Schauspielkonzepte und Gegenwartstheater.
Juliane Rebentisch
Das Theater ist das Gegenteil einer lebendigen Gemeinschaft. Jedenfalls dann, wenn man der traditionellen Kritik am Theater glaubt, der zufolge es seine Zuschauer nicht nur passiviert, sondern auch voneinander isoliert. Vielleicht erklärt dies, warum "Gemeinschaft" im Theaterkontext ein solcher Fetisch ist. Obwohl man sich heute kaum mehr zu der politischen Frage verhält, welche Form die Gemeinschaft eigentlich bestenfalls anzunehmen hätte, ist man sich doch sicher, dass es politisch geboten ist, die Zuschauer in aktive Teilnehmer zu verwandeln und das Publikum in eine – irgendeine – Gemeinschaft. Aber wie steht es mit dem sozialen Kontext dieser Forderung selbst? In einigen Bereichen der westlichen Gesellschaften sind inzwischen Aktivität und Konnektivität zu entscheidenden Forderungen geworden: Die Einzelnen sind angehalten, permanent vernetzt, aktiv und autonom zu agieren. Wir haben es hier mit einer so grundsätzlich neuen Konstellation von Kultur und Arbeit zu tun, dass der Aktivierungs- und Partizipationsimperativ im Theater zugleich als Effekt wie als Modell jenes neuen Anforderungsprofils diskutiert werden muss.
Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main und Kollegiumsmitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, Ethik, politische Philosophie. Bücher u.a.: Ästhetik der Installation (Suhrkamp 2003) / Aesthetics of Installation Art (Sternberg 2012); Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus (hg. mit Ch. Menke, Kadmos 2010); Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz (Suhrkamp 2012); Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung (Junius 2013).
Kai van Eikels
Die Kollektivität von Performance hängt davon ab, dass hier anders als beim Theater Menschen als ‚sie selbst‘ Handlungen vollziehen. Performance optiert eher für direkte als repräsentative Formen des Politischen, steht der postfordistischen Organisation von Arbeit näher als gewerkschaftlich reguliertem Betrieb. Gob Squad lassen sich offensiv auf diese Kollektivität ein, werfen dabei aber immer wieder die Frage nach der Ersetzbarkeit des Menschen auf: im arbeitsteiligen Kooperieren, im Nachahmen von Idolen, in der Varianz unserer primatennahen DNA…
Kai van Eikels ist Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind zerstreute Kollektivformen wie Schwärme, Kunst und Arbeit, Politiken der Partizipation, Synchronisierung und Choreographie. Publikation: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie (2013); Theorie-Blog: kunstdeskollektiven.wordpress.com
Richard Sennett – ein Videointerview mit Gob Squad
"Die Arbeitsverhältnisse im flexiblen Kapitalismus machen das Erzählen komplizierter und erschweren es den Menschen ihre Arbeitserfahrung der eigenen Geschichte einzuverleiben." 1998 schrieb Richard Sennett Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, 2012 erschien sein neuestes Buch Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Wie vereinbart der Einzelne unter heutigen Bedingungen Leben und Arbeiten? Welche Herausforderungen stellen sich, wenn sich lokale Zusammenhänge auflösen zugunsten globaler Verbindungen? Lassen sich vereinzelte, ortslose Arbeitsnomaden zusammenbringen?
Richard Sennett ist Professor für Soziologie an der London School of Economics und der New York University. Schwerpunkte seiner Forschung sind die Themen Arbeit, Städte und Kultursoziologie. 2006 wurde ihm der Hegel-Preis verliehen. Zudem wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Cambridge zuteil.
Patrick Wildermann (Moderation)
Patrick Wildermann, geboren 1974 in Münster, lebt als freier Kulturjournalist in Berlin.
Er arbeitet unter anderem für den Tagesspiegel, tip-Magazin, das Interviewportal GALORE und das Goethe-Institut. Schwerpunkte sind Theaterkritiken, Portraits und Kulturpolitik.
Zwei markierte Parkplätze vor dem Haus vorhanden. Zugang zum Parkett über separaten Eingang mit Lift möglich. Barrierefreie Sanitäranlagen vorhanden. Tickets für Rollstuhlfahrer*innen und Begleitpersonen sind über das Ticketingsystem buchbar. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an unser Ticketing- & Service-Team unter +49 (0)30 259004-27 oder per E-Mail an
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